Wie radikal ist unsere Jugend?

Über die Shell-Jugendstudie wurde in den Medien ausführlich berichtet. Eigentlich sollte es da für den Statistiker-Blog keinen Bedarf sein, zumal die Berichterstattung ziemlich breit gefächert war. Von Panik über einen „Rechtsruck“ über Freude über mehr politisches Engagement. Zumal sich auch mehr Jugendliche über Politik informieren, eigentlich gute Voraussetzungen für neue Kunden für die Medien.

Mehr als die Hälfte (51 %) der Jugendlichen geben an, sich aktiv – online oder offline – über das zu informieren, was in der Politik los ist – junge Männer dabei etwas häufiger als junge Frauen (53% zu 48%). 2019 waren es mit 36 % insgesamt noch deutlich weniger Jugendliche.

Shell Jugendstudie 2024, offizielle Zusammenfassung, Seite 23

Nicht so rechts wie behauptet

Allerdings sind einige Informationen mir doch etwas zu verkürzt. Selten dämlich die ehemals konservative „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ mit dem Teaser: „Junge Männer rücken immer weiter nach rechts. Hat die Diskussion um MeTo­o, Quoten und Gendern eine Generation wütender Machos hervorgebracht, die alle Uhren zurückdrehen will?„. Immer mehr junge Menschen würden sich autoritären Positionen zuwenden, heißt es in anderen Beiträgen. Immerhin sei jeder vierte junge Mann „rechts“, auf beide Geschlechter sei es fast jeder oder jede Fünfte.

Da allerdings wurden die Studienergebnisse etwas verkürzt. Tatsächlich sortieren sich nur 4 Prozent der jungen Menschen als rechts ein. 14 Prozent dagegen beschreiben sich als „eher rechts“. Das ist aber schon ein Unterschied. Als „eher rechts“ würden sich wohl auch einige CSU-Mitglieder beschreiben. Verfassungsfeindlichkeit sieht anders aus.

Trotzdem: die Ränder werden stärker – oder doch nicht?

Was gar nicht beachtet wurde, ist der linke Rand. Dabei gibt es auch dort verfassungsfeindliche Bestrebungen, wie beispielsweise die Gewalt an der FU Berlin oder – schon etwas her – beim G-20-Gipfel in Hamburg zeigte. Hier sehen sich deutlich mehr junge Menschen, nämlich 14 Prozent, 32 Prozent und damit die Mehrheit sieht sich als „eher links“.

Ein leichtes Übergewicht der Jugend nach links gibt es meistens. Auf einer Skala von 1 (linksextrem) bis 11 (rechtsextrem) liegt der Mittelwert bei 5,3 und damit leicht links. Ein Wert von 6,0 wäre genau die Mitte. Die jungen Männer liegen dabei mit 5,6 etwas näher in der Mitte als die Frauen mit 5,0.

Auch die Akzeptanz alternativer Lebensentwürfe, beispielsweise von homosexuellen Paaren, ist in den vergangenen Jahren weiter gestiegen.

Es gibt also keinen „Rechtsruck“, wohl aber eine Stärkung der Ränder. 66 Prozent der Männer und 62 Prozent der Frauen sortieren sich als rechts, eher rechts, eher links oder links ein, jedenfalls nicht in der Mitte. Über beide Geschlechter sind 46 Prozent links oder eher links, 28 Prozent rechts oder eher rechts. 26 Prozent landen in der Mitte, zehn Prozent haben keine Angaben gemacht.

2019 ordneten sich nur 57 Prozent der Männer und 55 Prozent der Frauen eindeutig einem Lager zu. Leider wissen wir nicht, ob das daran liegt, dass die Mitte schrumpft oder die Zahl derer, die keine Angaben gemacht haben. „Jugendliche positionieren sich politisch deutlicher“, schreiben die Shell-Forscher nur dazu.

Erfreulich: Interesse an Politik steigt

Dass das Interesse an Politik steigt, ist zunächst einmal positiv. Zumal sich, wie erwähnt, auch immer mehr junge Menschen über Politik informieren, immerhin 53 Prozent der Männer und 48 Prozent der Frauen. Die Shell-Studie zeigt einen deutlichen Anstieg des Interesses seit 2002 (siehe in der Grafik oben das linke Diagramm in der zweiten Reihe). Der Anteil derer, die sich für Politik interessieren, stieg von 2002 bis 2024 demnach von 30 auf 50 Prozent.

Allerdings haben die Autoren die Grafik auch sehr geschickt ausgewählt. Betrachten wir uns nämlich mal eine längere Zeitreihe (die nicht in der Zusammenfassung enthalten ist). Dann sieht der Wert etwas anders aus. Demnach haben wir aktuell mit 55 Prozent Interesse wieder den Wert des Jahres 1984 erreicht. Dass hier die Rede von 55 Prozent ist, ist kein Fehler. Laut der Zusammenfassung liegt der Wert aktuell bei 50 Prozent. Die langen Zeitreihen sprechen aber von 55 Prozent. Vielleicht gab es im Jahr 2002 eine Änderung der Berechnung, das würde erklären, warum dieses Jahr sowohl im Bericht von 2024 als auch von 2019 als Startpunkt gewählt wurde. Womöglich bezieht sich die alte Statistik nur auf gültige Prozent, also ohne „keine Angabe“.

Jedenfalls gab es bis zum Jahr 2002 einen deutlichen Rückgang des politischen Interesses. Aktuell liegen wir beim Interesse noch unter dem Wert aus dem Jahr 1991, aber ich will die Zunahme im politischen Interesse in den vergangenen 20 Jahren auch nicht schlechtreden.

Vertrauen in staatliche Institutionen steigt sogar

Das Vertrauen in die staatlichen Institutionen ist sogar gestiegen. Die Polizei erreicht auf einer Skale von 1 (kein Vertrauen) bis 5 (sehr hohes Vertrauen) einen Wert von 3,7, die Bundeswehr von 3,4, die EU erreicht den gleichen Wert. Das Vertrauen zur Bundesregierung ist mit 3,0 zwar gesunken, aber immer noch relativ hoch.

76 Prozent finden, dass Deutschland ihnen die Möglichkeit bietet, ihre Lebensziele zu verwirklichen. Dass mit 57 Prozent eine Mehrheit meint, dass bei uns einiges nicht funktioniert, was woanders normal ist, ist ein Stück weit normal, wenn man an den Zustand der Deutschen Bahn denkt. Auch wenn es natürlich insofern unfair ist, dass in Deutschland immer noch vergleichsweise viel funktioniert, vergleicht man es mit dem Durchschnitt der Welt. Aber unser Vergleichsmaßstab war auch lange nicht der Durchschnitt der Welt, sondern andere reiche Industrienationen.

Fazit

Die schrillen Töne in manchen Medien sind also unangebracht. Fairerweise muss man sagen, dass die Berichterstattung in den meisten Zeitungen auch differenzierter war als etwa im zitierten FAZ-Beitrag. Trotzdem, vor allem junge Männer haben in einigen Beiträgen ihr Fett wegbekommen. Dabei sind auch dort nur weniger „rechts“, die meisten die in den Beiträgen so verortet wurden, bezeichnen sich selbst nur als „eher rechts“, was auch viele CDU- und CSU-Wähler tun würden.

Von der Shell-Studie wurden nur 12 Prozent der Männer (und ebenso viele Frauen) zu den „verdrossenen Jugendlichen“ gezählt. Dass junge Männer sich häufiger für „Männlichkeit“ und weniger für Feminismus interessieren, kann man ihnen kaum vorwerfen – würde man ja umgekehrt auch nicht tun. Auch egoistischer sind sie nicht. Hier zeigt ein Blick in die Studie des Jahres 2019: Tatsächlich war es damals 37 Prozent der Männer wichtig, Macht und Einfluss zu haben, aber nur 28 Prozent der Frauen. Das aber war eher eine Folge der Auswahlkriterien bei der Partnerwahl als von Egoismus. Sich und seine Bedürfnisse gegenüber anderen durchzusetzen, war 48 Prozent der jungen Männer wichtig, aber 49 Prozent der Frauen.

Vor allem aber ist die junge Generation sehr heterogen. Pauschalisierungen sind deshalb fehl am Platz.

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