Es gibt ein paar Schlagworte, mit denen sich politische Ideen oder Bücher fast immer verkaufen lassen. Eine Möglichkeit ist die Verwendung des Zusatzes „Mythos“. So was verkauft sich fast immer, darum habe ich auch meinen Beitrag „Mythos Ökonomisierung“ nennen wollen, mich dann aber doch nicht getraut und immerhin ein Fragezeichen dazu gesetzt. „Die Ökonomisierungs-Lüge“ wäre noch reißerischer, auch so habe ich aber gleich zwei wichtige Begriffe untergebracht, denn ein weiteres dieser Schlagwörter, bei denen alle betroffen nicken (und klicken) ist „Ökonomisierung“.

Liebe verging, Hektar bestand

Angeblich wird alles ökonomisiert, die Liebe, der Staat, die Familie. Ich habe schon mal Zweifel daran geäußert und darauf hingewiesen, dass sich bei der Berufswahl ein anderer Trend abzuzeichnen scheint. Während die Wirtschaft nach Ingenieuren und Programmierern ruft, steigt die Zahl der Künstler. Auch in Sachen Liebe gibt es relativ unzweifelhaft eine Deökonomisierung. „Liebe vergeht, Hektar besteht“, von diesem Spruch lässt sich kaum noch jemand leiten. Der Staat versucht zwar effizienter zu werden, aber ob das Schlagwort „Ökonomisierung“ hier passt, ist fraglich. Er hat schlicht immer mehr Aufgaben und muss seine Kräfte daher effizienter einsetzen. Lediglich in der Familie gibt es eine Ökonomisierung, beispielsweise wenn Hausarbeit von unbezahlten Hausfrauen auf Reinigungskräfte oder die Kinderbetreuung auf Institutionen wie Horte und Kitas verlagert wird. Diese Form der Ökonomisierung aber ist politisch gewollt, selbst in konservativen Kreisen wünscht sich kaum jemand offen die klassische Hausfrauenehe zurück.

„Die Ökonomisierungslüge“

Der deutsch-französische Soziologe Steffen Roth hat nun einen Beitrag mit dem Titel „There is no such thing as economized societies“ veröffentlicht (vermutlich in Anspielung auf ein Zitat von Margret Thatcher: „There ist no such thing as society“). Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass über Ökonomie zumindest immer weniger gesprochen wird. Dazu hat er mit Hilfe des Ngram Viewers von Google die in Google Books gespeicherten Bücher nach bestimmten Schlüsselbegriffen wie „Geld“, „Macht“ und „Liebe“ durchsucht.

Mythos Ökonomisierung
Relative Häufigkeit der Begriffe Wirtschaft, Geld und Ökonomie laut Ngram Viewer.

Eine Ökonomisierung im engeren Sinne gab es in den vergangenen 30 Jahren auf keinen Fall, der Begriff „Ökonomie“ befindet sich seit Mitte der 1970er Jahre im Abwärtstrend, allerdings nach einem langen Aufschwung. Von „Wirtschaft“ ist dagegen schon seit den 1950er Jahren immer seltener die Rede. Nur von Geld wird häufiger gesprochen, allerdings nicht viel häufiger als noch 1920. Anders übrigens als im englischsprachigen Raum, wo der Begriff „money“ seit den 1930er Jahren immer seltener auftaucht.

Was sagt das wirklich aus?

Nun kann man gegen die Methode einige Bedenken vorbringen. Beispielsweise die, dass Google Books nicht alle Bücher beinhaltet und nicht berücksichtigt, welche davon auch gelesen werden. Außerdem sucht der Ngram Viewer, wie der Name schon sagt, N-Gramme, also feste Buchstabenkombinationen. Abweichende Schreibweisen bleiben außen vor. Zudem lassen sich Bücher über Wirtschaft schreiben, ohne ständig das Wort „Wirtschaft“ zu verwenden.

Kulturisierung
Die Begriffe Politik und Kultur tauchen in den vergangenen Jahren seltener auf, aber immer noch häufiger als 1950. Religion ist als Begriff dagegen wieder im Kommen. Quelle: Ngram Viewer

Und nicht zuletzt befinden sich viele „alte“ Schlagwörter seit den 1970er Jahren im Niedergang, schlicht weil seitdem neue Begriffe wie „Computer“ oder „Internet“ die Bücher füllen, zumal der Ngram Viewer die relative Häufigkeit auswertet. Schließlich deckt sich das, worüber geschrieben wird nicht immer mit dem, was die Menschen tatsächlich bewegt.

Trotzdem müssen sich die Anhänger der Ökonomisierungsthese die Frage stellen lassen, warum sich die Menschen in einer angeblich ökonomisierten Gesellschaft deutlich weniger für Wirtschaft interessieren als 1950, häufiger dafür für Kultur, Politik und selbst Religion ähnlich oft in den Büchern auftaucht wie noch 1950.

Grafik Digitalisierung
Neue Begriffe erobern die Bücher. Quelle: Ngram Viewer
2 thoughts on “Mythos Ökonomisierung?”
  1. Ich hätte ja gedacht, dass „economy“ auch im Deutschen den Verlust bei „Wirtschaft“ ausgleichen würde – tja, tut’s aber nicht 🙂

    Allerdings nimmt auch „Kapitalismus“ in gleichem Umfang ab. Dieser Begriff dürfte eher in kritischen Publikationen eine Rolle gespielt haben und vielleicht hatten ja auch die in den 70ern eine Blüte.

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