Postfaktisch ist das Wort des Jahres 2016. Ich halte das für fragwürdig, denn das impliziert ja, dass es mal eine faktische Zeit gegeben hat. Wer sich mit Statistik beschäftigt weiß, dass die Akzeptanz von empirischen Ergebnissen schon immer vor allem davon abhängt, ob sie ins Weltbild der Rezipienten passen. Ich will hier nicht dafür werben, alle Daten einfach unkritisch hinzunehmen. Aber eine seriös aufbereitete Statistik sollte zumindest ein Nachdenken auslösen, wenn sie den bisherigen Annahmen widerspricht.
Aber natürlich ist auch der Statistiker-Blog nicht „objektiv“. Dem Philosophen Karl Popper zufolge kann Objektivität nie erreicht werden, sie sollte aber das Ziel eines guten Beobachters sein, egal ob es sich um einen Journalisten, einen Wissenschaftler oder einen Blogger handelt.
Heute aber wollen wir auch postfaktisch werden – und es geht am letzten Tag des Jahre 2016 natürlich um einen Rückblick. Ich blicke auf die Jahrzehnte zurück, die ich selbst erlebt habe und erstelle eine Rangliste wie gut die Stimmung in den jeweiligen Jahren war – für die 2010er-Jahre geht es natürlich nur um die ersten sieben Jahre, von Anfang 2010 bis Ende 2016.
Es geht also um Gefühle. Weil ich mich aber nicht auf Erhebungen über Optimismus und Pessimismus der jeweiligen Jahre stützt, sondern nur auf mein Gefühl, handelt es sich also um gefühlte Gefühle.
Meine Rangliste ist:
- 199er Jahre
- 198er Jahre
- 2000er Jahre
- 2010er Jahre,
- 1970er Jahre.
Das deckt sich mit einer Erhebung von YouGov, bei der man Menschen gefragt hatte, ob welche Jahrzehnte besser und welche schlechter sind als die Gegenwart. Dort gewannen die 80er-Jahre, vielleicht weil der Mediandeutsche etwas älter ist als ich und die 80er für ihn Party und Spaß bedeuten, die 90er aber Windeln und Schulden fürs Haus tilgen.
Unverständlich ist, warum die 70er so gut abschnitten, die in meiner Erinnerung vor allem mit Terror, Wettrüsten und schrecklicher Mode verbunden sind. Aber vermutlich sehen das alle, die um 1970 jung waren, anders. Ich habe an das Jahrzehnt keine Erinnerung mehr, wer Filme aus der Zeit sieht oder alte Zeitungsartikel liest weiß aber, dass es aus damaliger Sicht keineswegs selbstverständlich war, dass die Zunahme der Kriminalität schon Anfang der 1980er Jahre enden würde (vgl. „Wann die Zukunft anfängt„). Das Jahrzehnt landet deshalb bei mir ganz hinten.
Das folgende Jahrzehnt war geprägt von Waldsterben, Atomangst und Aids, aber immerhin waren die bleiernen 70er Jahre vorbei und Mitte des Jahrzehnts starteten die ersten Abrüstungsbemühungen, nachdem die ersten Jahre noch vom Streit um die Aufrüstung geprägt waren. Und immerhin hat man damals auch einiges nicht mitbekommen, beispielsweise wie knapp die Welt 1983 an einem Atomkrieg vorbei ging. Die 80er Jahr landen deshalb auf Platz 2.
Ganz vorne stehen bei mir die 1990er. Sie waren gefühlt eine Zeit des Aufbruchs, zumindest in Deutschland. Menschen in Ruanda und im ehemaligen Jugoslawien werden da vermutlich anders erlebt haben. Aber in Deutschland war der Kalte Krieg gerade vorbei und die islamistische Bedrohung war noch weniger bedrohlich als heute.
Das kam erst in den Nuller-Jahren. Aber immerhin nicht in Deutschland. Deshalb Platz 3. Das aktuelle Jahrzehnt landet immerhin vor den 1970er Jahren.
Wer jetzt einwendet, das sei ja alles total subjektiv, dem gebe ich Recht. Und was ist mit den Daten? Tatsächlich ist auch im aktuellen Jahrzehnt vieles besser als früher. Mitte der 1960er Jahre beispielsweise gab es weltweit etwa 3,5 Millionen Menschen. Von diesen waren 2,0 Millionen unterernährt. Aktuell sind es bei über 7 Milliarden Menschen „nur“ 800 Millionen.
Auch die weltweite Ungleichheit ist niedriger, sie erreichte ihren Höhepunkt um das Jahr 1990. Die medizinische Versorgung ist heute sogar besser als in den 1990er Jahren, die Zahl der Arbeitslosen niedriger als am Ende des Jahrzehnts. Die Ungleichheit ist aber trotzdem nach wie vor höher als in den 1990ern, zumindest die Innerdeutsche.
Andere Daten passen dagegen zu meiner guten Bewertung der 1990er Jahre in Westeuropa. Vermutlich würden auch die meisten Politikwissenschaftler unterschreiben, dass die Kriegsgefahr damals relativ gering war, die weltweite Ungleichheit sank, wie bereits erwähnt und auch die Zahl der Terroropfer in Westeuropa ging nach Daten der Global Terrorism Database (zitiert nach Süddeutsche Zeitung) fast jährlich zurück.
Die 1980er waren dagegen nicht ganz so gut wie in meiner Erinnerung. 1988 und 1980 waren in Westeuropa die Jahre mit den höchsten Zahlen von Terroropfern. 1980 waren vor allem Neofaschisten und Neonazis dafür verantwortlich, mit den Anschlägen auf den Hauptbahnhof von Bologna mit über 80 Toten und den Sprengsatz am Münchener Oktoberfest. 1988 hat vor allem Libyen Schuld, damals explodierte ein Jumbo-Jet der US-Fluglinie Pan Am. Insgesamt war das Jahrzehnt aber weniger blutig als die 1970er Jahre.
Nachtrag vom 4.1: Die Bilanz der 1970er verschlechter sich aber noch, wenn man die Flugzeugkatastrophe von 1977 in Teneriffa mitzählt. Dann wäre das Jahr 1977 ganz vorne. Damals stießen zwei Flugzeuge am Boden zusammen, fast 600 Menschen starben. Auf Teneriffa waren sie nur gelandet, weil es auf Gran Canaria eine Bombendrohung gab. Solche indirekten Terrorfolgen bleiben in den Statistiken natürlich außen vor, beispielsweise Menschen die starben, weil sie aus Angst vor Flugzeugentführungen mit dem Auto statt mit dem Flugzeug reisten. Und natürlich hätte das Unglück auch an einem anderen Ort passieren können. Die Verbindung dieses Ereignisses mit dem Terror der Jahre 1977 ist also sehr wackelig – in meinem Augen werden die Toten daher zu Recht nicht als Terroropfer gezählt.
Wobei solche Daten natürlich nur begrenzt beruhigend sind. Was vielen Menschen Angst macht ist ja eher das, was kommen könnte. Und da kann uns auch die Statistik nicht weiterhelfen.
Ich wünsche allen Lesern ein gutes Jahr 2017 mit weniger Kriegen und Katastrophen als 2016. Und in der nächsten Woche geht es wieder um harte Daten, versprochen. Zumindest der Statistiker-Blog lässt das „postfaktische“ Zeitalter hinter sich. Zumindest ein bisschen, denn es wird um die Unterschiede zwischen tatsächlicher Migration und der gefühlten Zahl von Einwanderern gehen.
Interessanterweise habe ich heute in einem Interview mit dem Soziologen Heinz Bude die Einschätzung gelesen, dass die Zuversicht der Deutschen tatsächlich zwischen 1958 und 1964 am größten gewesen sei. Er begründet das aber nicht nur mit der Weltlage, in die Zeit fällt ja beispielsweise auch die Kuba-Krise. Vielmehr spiele auch das Erleben des Krieges eine Rolle, das Gefühl, dass das Schlimmste hinter einem liege. Tatsächlich gibt es ja aktuell oft die Einschätzung: „Uns geht es so gut, da kann es nur noch schlechter werden“.
[…] letzten Beitrag ging es ja um gefühlte Gefühle. Diesmal soll es um die Frage gehen, wie unsere Gefühle uns trügen können. Genauer genommen will […]
Schade, die 60er hätte ich als Jahre des Optimismus gesehen – technischer Fortschritt, Vollbeschäftigung, Mondlandung. Allerdings habe ich sie selbst nicht erlebt, sondern kann nur auf Erzählungen zurückgreifen und etwa auf einen SPD-Wahlwerbespot, der die Zukunft in den schönsten Farben ausmalte.
Zu den 70ern muss ich sagen, dass die Jahre vor 1974 vor meiner Zeit waren. Das mit Brandts Entspannungspolitik ist natürlich richtig. Aber wie gesagt, es handelt sich ja auch um gefühlte Gefühle.
😉
Die 70er sind in meiner Erinnerung geteilt – die Zeit bis 1974 war keineswegs bleiern, es war die Zeit des Mehr-Demokratie-Wagens und der Ostverträge. Brandts Kniefall in Warschau – die Ikone einer Generation. Dann kamen Schmidt, die RAF und die Nachrüstung … Ich könnte auch noch die 60er bewerten. Die waren nicht halb so gut, wie mancher heute glaubt 🙂