Wie oft sind Familien mit mindestens drei Kindern in Deutschland armutsgefährdet? Deutlich häufiger als der Bevökerungsschnitt, sagen Mikrozensus und SOEP, unterdurchschnittlich oft sagt EU-SILC. Auch bei anderen Personengruppen gibt es einen Unterschied zwischen EU-SILC auf der einen und Mikrozensus und SOEP auf der anderen Seite? Was stimmt?

So wird armutsgefährung gemessen

Alle drei vergleichen Haushalte auf Basis des sogenannten Nettoäquivalenzeinkommens. Dabei wird vereinfacht gesagt ein  fiktives Pro-Kopf-Einkommen ausgerechnet, dass Kosteneinsparungen größerer Haushalte abbilden soll. So wird jede weitere Person im Haushalt nur mit 0,5 gewichtet, ein Kind sogar nur mit 0,3. Für eine Familie mit zwei Kindern liegt die Armutsgrenze als beim 2,1 fachen (1,0 für die erste erwachsene Person + 0,5 für die zweite sowie 2*0,3 für die Kinder).

Diese Messung ist nicht unumstritten. Bis vor einiger Zeit lagen die Gewichte noch bei 0,7 für jede weitere erwachsene Person und 0,5 für jedes Kind. Nach dieser alten Rechnung läge die Zahl der armen alleinstehenden deutlich niedriger, die der Familien dafür deutlich höher.

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Armut ist ein wichtiges Thema in den Medien. Aber auf welcher Datengrundlage?

Die Äquivalenzskala ist allen drei Quellen aber gleich. Es gibt allerdings andere Unterschiede, die sich teilweise auch auf die Armutsquoten auswirken.

Mikrozensus

Da ist zunächst der Mikrozensus. Er findet jedes Jahr anstelle eines „echten“ Zensus, also einer Volkszählung statt. Dabei wird ein Prozent der Haushalte befragt, so gesehen handelt es sich also eher um einen Zentizensus als um einen Mikrozensus, der analog zu Einheiten wie Mikrometer ein Millionstel der Haushalte umfassen dürfte. Aber Zentizensus hört sich irgendwie komisch an.

Im Rahmen des Mikrozensus wird auch das Einkommen erfasst. Da auch die Haushaltsgröße erhoben wird, lässt sich leicht ein Nettoäquivalenzeinkommen berechnen. Meist werden Haushalt vier Jahre hintereinander befragt, so lassen sich auch Veränderungen innerhalb einzelner Familien analysieren.

Sozioökonomisches Panel (SOEP)

Das SOEP wird nicht von den statistischen Landes- und Bundesämtern durchgeführt, sondern von der Leibnitz-Gemeinschaft, vor allem dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Befragt werden 12.000 Haushalte mit rund 26.000 Personen, also deutlich weniger als die 390.000 Haushalte mit 830.000 Bürgern beim Mikrozensus. Warum die durchschnittliche Haushaltsgröße beim SOEP niedriger ist als beim Mikrozensus ist mir auch nicht bekannt.

Der Schwerpunkt ist etwas anders, beispielsweise werden auch subjektive Empfindungen abgefragt. Für die Armutsforschung sind aber vor allem zwei Unterschiede wichtig, nämlich

  1. die Befragung ist freiwillig und
  2. es wird die Mietersparnis durch selbstgenutztes Wohneigentum erhoben.

Letzteres ist nicht ganz unwichtig.  Stellen wir uns vor, ein Arbeitnehmer besitzt eine Eigentumswohnung in Düsseldorf. Nun muss er dienstlich nach Köln umziehen und vermietet seine Wohnung für 600,- Euro. Gleichzeitig mietet er in Köln eine Wohnung zum gleichen Preis. Mehr Geld in der Tasche hat er nicht, im Mikrozensus und in der EU-SILC Erhebung hätte er aber 600,- Euro Einkommen mehr. Das SOEP dagegen berücksichtigt den Mietvorteil in Düsseldorf, die Änderung wäre weniger gravierend.

Harz 4
Wer sein altes Haus vermietet und sich für das gleiche Geld woanders einmietet, würde dadurch im Mikrozensus und in EU-SILC reicher. Das ist natürlich unsinnig. Dieses Haus in Hasselfelde dürfte aber ohnehin niemand mehr mieten.

Somit ist der Mikrozensus hier weniger aussagekräftiger, er befragt aber deutlich mehr Menschen und ist nicht freiwillig. Welche Erhebung die bessere ist, ist damit schwer zu sagen. Es ist aber auch relativ egal, wie wir gleich sehen werden.

EU-SILC

Die schwächste Datenquelle ist EU-SILC, die European Union Statistics on Income and Living Conditions, auf Deutsch Europäische Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen. Sie befragt 28.000 Menschen in 14.000 Haushalten, also etwas mehr als das SOEP, berücksichtigt aber leider Wohneigentum auch nicht. Außerdem rekrutiert sie sich aus Befragten des Mikrozensus, die freiwillig an einer weiteren Untersuchung teilnehmen. Laut Dr. Judith Niehues vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln ergibt sich dadurch vermutlich ein Mittelstands-Bias. Die Befragten kommen also oft aus der Mittelschicht, Migranten und Arme sind untergewichtet.

Ihr Nutzen liegt vor allem darin, dass sie europaweit vergleichbare Daten liefert. Für den reinen Blick auf Deutschland ist sie aber am wenigsten geeignet.

Ein Blick in die Daten

Trotz der unterschiedlichen Berücksichtigung von Wohneigentum fallen die Armutsquoten sowohl insgesamt als auch im Bereich der einzelnen Teilgruppen überwiegend gleich aus. 15,4 Prozent der Bevölkerung waren nach Daten des Mikrozensus im Jahr 2014 armutsgefährdet, 15,8 Prozent waren es beim SOEP. Armutsgefährdet bedeutet, dass ihr Nettoäquivalenzeinkommen bei weniger als 60 Prozent des Medians, also des Wertes, zu dem es genauso viele reichere wie ärmere Haushalte gibt. Was hier armutsgefährdert heißt, wird in den Medien meist als arm bezeichnet. Die Statistiker kennen dagegen noch zwei andere Grenzen. Als arm werden üblicherweise nur Menschen mit einem Nettoäquivalenzeinkommen von weniger als 50 Prozent, weniger als 40 Prozent nennt man strenge Armut. Im täglichen Sprachgebrauch wird aber üblicherweise mit „arm“ die Armutsgefährdung bezeichnet.

Kinder sind häufiger Arm, Senioren unterdurchschnittlich oft

Auch beim Blick in die Armutsgefährdung einzelner Bevölkerungsgruppen sind Mikrozensus und SOEP vergleichbar. Allerdings sind Senioren und 50 bis unter 65-Jährige laut SOEP etwas seltener armutsgefährdet als laut Mikrozensus, obwohl ersteres insgesamt zu einer etwas höheren Armutsgefährdungsquote kommt. Das könnte durchaus am Wohneigentum liegen, dass der Mikrozensus nicht berücksichtigt. Das ist sicher auch mit ein Grund, warum das Medianeinkommen beim SOEP deutlich höher liegt als beim Mikrozensus.

Besonders häufig sind 18 bis unter 25-Jährige arm. Das liegt allerdings daran, dass sie oft noch ein niedriges Einkommen haben,  beispielsweise als Studenten oder Auszubildende.

Mikrozensus
Nach den Daten des Mikrozensus sind Menschen ab 65 deutlich seltener armutsgefährdet. Betroffen sind vielmehr vor allem Kinder und junge Menschen.

Auf den ersten Blick erscheint es ungewöhnlich, dass sie häufiger arm sind als Kinder, die ja gar kein eigenes Einkommen haben. Die aber sind ja über die Eltern abgesichert. Oft erhalten auch über 18-Jährige noch Unterstützung der Eltern, allerdings ist zum Einen fraglich, ob die vollständig erfasst wird. Außerdem haben sie höhere Kosten, wenn sie alleine leben. Hinzu kommt, dass der Bedarf von Kindern deutlich niedriger angesetzt wird als der von Erwachsenen. Selbst wenn letztere ebenfalls nicht im eigenen Haushalt leben ist er fast doppelt so hoch. Wie erwähnt ist diese Annahme fraglich, möglicherweise wird die Armut von Kindern unterschätzt. Dagegen sind Senioren – entgegen der landläufigen Annahme – weit unterdurchschnittlich oft arm.

SOEP Armut
Beim Sozioökonomischen Panel (SOEP) ist der Unterschied sogar noch größer. Das dürfte unter anderem daran liegen, dass hier auch selbstgenutztes Wohneigentum berücksichtigt wird.

Das spiegelt sich auch bei der Armut nach Haushaltsgröße. Niemand ist häufiger armutsgefährdet als Alleinerziehende. Das ist auch kein Wunder, schließlich steht hier eine Arbeitskraft weniger zur Verfügung als bei Familien mit zwei Elternteilen. Überhaupt sind Alleinstehende öfter arm, denn sie haben höhere Kosten pro Person. Außerdem kann bei Paaren ein niedriges oder fehlendes Einkommen eines Partners durch einen anderen aufgefangen werden.

Bin ich arm?
Umgangssprachlich wird meist als arm bezeichnet, wessen Nettoäquivalenzeinkommen bei weniger als 60 Prozent des Medians ist. Offiziell spricht man von Armutsgefährdung, ab weniger als 50 Prozent von Armut. Für den Reichtum gibt es unterschiedliche Grenzen, häufig 200 Prozent des Medians. Die Tabelle zeigt die entsprechenden Grenzen für den jeweiligen Familientyp.

Schließlich sind auch Paare mit drei oder mehr Kindern häufiger armutsgefährdet. Hier treffen höhere Kosten auf ein geringeres Arbeitsangebot, weil im Haushalt mehr Arbeit anfällt und in weniger Paaren beide Partner voll arbeiten.

EU-SILC fällt aus der Reihe

Nur EU-SILC fällt etwas aus der Reihe. Familien mit Kindern sind demnach unterdurchschnittlich häufig armutsgefährdet. Obwohl selbstgenutztes Wohneigentum nicht berücksichtigt wird, liegt der Einkommensmedian sehr hoch. Beides könnte Folge des Mittelschichts-Bias sein, den Forscherin Judith Niehues vom Institut der deutschen Wirtschaft vermutet. Dagegen sind laut EU-SILC Senioren fast genauso häufig armutsgefährdet wie im Durchschnitt.

SOEP
Die vielleicht beste Quelle für die Armutsmessung ist das SOEP. Zwar ist die Stichprobe kleiner als beim Mikrozensus, dafür wird auch selbst genutztes Wohneigentum berechnet. Wer sich selbst in dieser Tabelle findet und Wohneigentum besitzt, muss eine fiktive Miete zu seinem Einkommen addieren, von der die Kosten für Kreditzinsen, Versicherungen und anderen Ausgaben, die Mieter nicht haben, abgezogen wird.

Was tun?

Die Unterschiede zwischen EU-SILC auf der einen und Mikrozensus und SOEP auf der anderen Seite sind natürlich schwierig. Sie erlauben es einerseits jeder Interessensgruppe, sich die Zahl herauszusuchen, bei der man möglichst schlecht dasteht und so mehr Geld einzufordern. Wobei man auch völlig ohne jede Datenbasis das Bild einer darbenden Bevölkerungsgruppe aufbauen kann, wie die Rentnerlobby beweist.

Umgekehrt bietet dieser Zahlensalat aber auch Kritikern  die Möglichkeit, die Armutsgefährdung in Frage zu ziehen. Etwa mit dem Hinweis, dass ja ohnehin jede Statistik zu einem anderen Ergebnis kommen würde.

Dabei hat EU-SILC eine Reihe von Nachteilen. Sowohl das eher linke DIW als auch das Institut der deutschen Wirtschaft sehen Migranten in der Erhebung unterrepräsentiert. Gerade die sind aber häufig arm. Denn die Teilnahme ist bei EU-SILC ja freiwillig, anders als beim SOEP werden aber keine Dolmetscher bereitgestellt.

Deshalb sollten bei Untersuchungen für Deutschland vor allem die Daten von Mikrozensus und SOEP verwendet werden. Und die kommen zu sehr ähnlichen Ergebnissen.

2 thoughts on “Armut im Vergleich”
  1. Hallo Herr Fix, die beschriebene Unterscheidung in Armut und strenge Armut wird selten verwendet, zumindest die 50-Prozent-Grenze findet man aber hin und wieder in Berichten. Die 40-Prozent-Grenze sieht man selten, sie wird aber hin und wieder herangezogen. Insofern muss man beide Grenzen nicht einführen, man müsste sie aber häufiger nutzen.

  2. An dieser Stelle spreche ich mal meinen Dank aus für Ihre immer wieder erhellenden Artikel. Gegen Postfaktisches helfen halt nur Fakten …

    Zur Armut: Tatsächlich scheint der Armutsbericht der einzige sinnvolle Ansatz zu sein, Armut in einem reichen Land wie Deutschland zu messen. Georg Cremer von der Caritas weist in seinem Buch „Armut in Deutschland“ darauf hin, dass eine Messung über (z. B.) Hartz-4-Bezüge gerade statistisch zu unsinnigen Ergebnissen führt – weil dann eigentlich sinnvolle Erhöhungen der Beträge auch eine Erhöhung der Anzahl an Armen zur Folge hätte.

    In einem Punkt weicht er von Ihnen ab. Sie schreiben: „Die Statistiker kennen dagegen noch zwei andere Grenzen. Als arm werden üblicherweise nur Menschen mit einem Nettoäquivalenzeinkommen von weniger als 50 Prozent, weniger als 40 Prozent nennt man strenge Armut.“

    Ist das wirklich gebräuchlich? Cremer spricht nämlich davon, dass er diese Unterscheidung für sinnvoll hält und man solle sie doch einführen.

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