Knallhart decken unsere Boulevardmedien die Abgründe in unserem Land auf. „Kinder, die schon im Grundschulalter unbeweglich sind, die nicht spielen oder rennen können, die gehänselt werden, an Diabetes leiden und in jungen Jahren schon süchtig sind – süchtig nach Zucker“, berichtete Stern TV im Mai 2018. Das es solche Kinder gibt wird niemand bestreiten, aber aber beim Sender weiß man: „Das ist in Deutschland längst keine Seltenheit mehr.“ Und die Boulevardaufklärer von Stern TV erklären auch gleich, dass „Zucker Deutschlands größtes Suchtproblem ist.“

Nun habe ich selbst Kinder in unterschiedlichen Altersstufen und kenne deshalb auch einige Kinder. Zumal ich als Freiberufler und Hausmann prädestiniert dafür bin, hin und wieder auch bei Schulfesten oder Exkursionen die Klasse zu begleiten. Aber die Masse an unbeweglichen Zucker-Zombies ist mir entgangen. Sicher, ein oder zwei sehr übergewichtige Kinder fallen mir schon ein. Aber selbst die können noch rennen. Nun gibt es bei uns in der Stadt drei Grundschulen und unsere hat im Einzugsbereich am wenigsten Sozialwohnungen. Vielleicht ist mein Eindruck also nicht repräsentativ. Grund genug die Statistik zu befragen und zwei Fragen zu stellen:

  • Sind wirklich so viele Kinder schwer übergewichtig? Wobei „keine Seltenheit“ natürlich viel Raum für Interpretationen lässt.
  • Nimmt schweres Übergewicht zu?
Tabakpflanzen in Schwabach
Dem Tabak ging es schon weitgehend an den Kragen. Ist jetzt der Zucker dran?

In Deutschland bietet sich als Antwortgeber vor allem die KiGGS Studie des Robert-Koch-Instituts an. Die erste Erhebung fand 2003 bis 2006 statt. Seitdem wurde sie zweimal wiederholt, nämlich 2009 bis 2012 und 2014 bis 2017. Sie ist so gestaltet, dass sowohl Schlüsse über die Veränderung innerhalb einer Alterskohorte gezogen werden können als auch zwischen zwei Kohorten. Man kann also sowohl die  Entwicklung des Übergewichts des Geburtsjahrgangs 1999 zwischen den einzelnen Messpunkten vergleichen als auch das Übergewicht von beispielsweise 6-Jährigen damals und heute (natürlich auch alle möglichen anderen Faktoren von Gesundheit).

Nun muss man zwischen „normalem“ Übergewicht und Adipositas unterscheiden. Übergewicht beginnt bereits bei einem Body-Mass-Index (BMI – Gewicht in kg durch Körpergröße in Metern zum Quadrat), Adipositas bei einem  ab 30. Was Stern TV hier meint ist Adipositas, wahrscheinlich sogar Adipositas der Stufe II (BMI ab 35) oder Stufe III (BMI ab 40). Ein 1,40 Meter großes Kind (so groß sind viele Dritt- bis Viertklässler) müsste für Adipositas der Stufe III  also fast 80 Kilogramm wiegen. Normales Übergewicht ist dagagen nach einer jüngeren Studie womöglich gar keine Gesundheitsgefahr, wobei da einige Mediziner widersprechen.

Adipositas
Adipositatsprävalenz von Kinder nach Geschlecht und sozialem Status. Die Prozentzahlen geben, welcher Anteil der Kinder mindestens den BMI erreichen, dass die schwersten 3-Prozent im Jahr 1990 hatten.

Nun enthält die KiGGS Studie keine Daten zur Adipositas der Stufen. Auch geht man dort etwas anders vor. Als Adipositas gilt der BMI, den die schwersten drei Prozent im Jahr 1990 erreichten (97-Pr0zent Perzentil). Wobei der BMI nicht für jede Altersgruppe getrennt festgelegt wurde, sonst wär der Anteil der schwer übergewichtigen Kinder im Jahr 1990 ja in allen Altergruppen gleich gewesen.

Insgesamt sind nach der KiGGS Studie 5,5 Prozent der Mädchen und 6,3 Prozent der Jungen schwer übergewichtig. Wie viele davon so schwer sind, dass sie nicht mehr rennen und spielen können, wissen wir nicht. Die Gewichtsverteilung dürfte aber einer Normalverteilung zumindest nahe kommen, daher wird vermutlich nur ein kleiner Teil betroffen sein. Nun kann man darüber streiten, ab wann die Aussage „keine Seltenheit mehr“ zutrifft. Sollten es ein bis zwei Prozent sein, ist das dann „keine Seltenheit“? , Aber zumindest können wir sagen, dass nicht massenweise dicke Kinder durchs Land rollen. Rund 5,9 Prozent leiden über beide Geschlechter hinweg an Adipositas, die ganz große Mehrheit tut das also nicht.

Hunger in Deutschland
Auch in Deutschland war Hunger früher normal. Die Geschichte von den Kindern, die in den Wald geführt wurden, weil es nicht genug zu essen gab, kommt nicht von ungefähr. Und nicht immer haben die Kinder im Wald ein Lebkuchenhaus gefunden.

Wie verläuft der Trend?

Immerhin kann man sagen, dass das Übergewicht seit den 1990er Jahren zugenommen hat. Wie gesagt wurde der BMI für Adipositas so definiert, dass 1990 nur drei Prozent die Definition erfüllten, also rund die Hälfte. Wobei der Wert 1990 schon höher lag als 20 Jahre vorher. Und erst recht als noch früher, als in Deutschland Hunger das größte Problem war und nicht Übergewicht. Es schadet nicht in all dem Alarmismus kurz inne zu halten und darüber nachzudenken, was für ein Luxusproblem Übergewicht im Vergleich zur Mangelernährung ist.

Leistet der Boulevard also wenigstens insofern eine sinnvolle Aufgabe, als er helfen kann einen Trend zu stoppen? Nur sehr bedingt, denn nach den Daten der KiGGS Studie ist der Trend zum Übergewicht längst gestoppt. Mit 6,3 Prozent lag bei der Basiserhebung vor mehr als zehn Jahren der Anteil der schwer übergewichtigen Kinder und Jugendlichen noch rund 0,4 Prozentpunkte höher. Der Rückgang betrifft alle Altersgruppen außer dei 14 bis 17-Jährigen. Möglicherweise weil der Rückgang des Übergewichts erst einsetzte, als es für sie schon zu spät war. Möglicherweise aber auch, weil in diesem Alter Tablet PC und Smartphone interessanter sind als Fußball und Fangen spielen. Denn entgegen landläufigen Vorurteilen nutzen die Grundschüler zumindest an unserer Schule elektronische Medien nur eingeschränkt.

Wohnen in der DDR Statistik
Personen mit niedrigem sozialem Status sind häufiger schwer übergewichtig.

Wobei die Daten zum Übergewicht zeigen, dass es leichte Unterschiede nach Geschlecht und deutliche nach sozialem Status gibt. So sind Jungen etwas häufiger als Mädchen von Adipiositas betroffen. Möglicherweise liegt das am Schlankheitsideal bei jungen Mädchen. Das Robert-Koch-Institut hält den Unterschied für nicht signifikant, bezieht sich dabei aber offenbar nur auf das Gesamtergebnis und nicht auf die einzelnen Altersgruppen.

In jedem Fall deutlich ist der Unterschied nach sozialem Status. Je ärmer und weniger gebildet, desto höher der Anteil der schwer übergewichtigen Kinder. Besonders groß ist der Unterschied bei den Jungs, hier sind 11,4 Prozent der Kinder die aus einem Elternhaus mit niedrigem sozialen Status kommen schwer übergewichtig. Am anderen Ende der Skala stehen Mädchen aus Elternhäusern mit hohem sozialen Status, die nur zu 2,0 Prozent schwer übergewichtig sind.

Kranke Zähne bei Jugendlichen
Zahl der kariösen (decayed), fehlenden (missing) und gefüllten (filled) Zähne bei 12-Jährigen, der sogenannte DMF-T Wert. Quelle: Gesundheitsberichterstattung des Bundes

Fazit

Abschließend können wir feststellen, dass die Daten beim genauen Betrachten weniger dramatisch sind als vom Boulevard dargestellt, dass es aber einen wahren Kern gibt. Anders als beim Thema Karies oder den Ertrunkenen ist das Problem mittel- und langfristig tatsächlich größer geworden. Der Anteil der schwer übergewichtigen Kinder ist von 1990 bis zur ersten KiGGS Studie in den Jahren 2003 bis 2006 um 3,3 Prozentpunkte angestiegen, was mehr als eine Verdopplung bedeutet. Der Deutsche Gesundheitsbericht Diabetes ergänzt noch, dass auch die Zahl der Diabetes-Fälle ansteigt. Wobei die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Diabetes Typ 1 ebenfalls stark zunimmt, obwohl die laut meiner Recherche weniger bis gar nicht vom Übergewicht beeinflusst wird. Möglicherweise werden auch einfach mehr Fälle aufgedeckt als früher. Und dass das Übergewicht seit mehr als zehn Jahren nicht mehr steigt, verschweigt Stern TV natürlich. Da steht man aber nicht alleine. Selbst der Gesundheitsbericht Diabetes 2019 behauptet, dass sich der Anteil der adipösen Kinder in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt hätte. Tatsächlich ist das das Ergebnis der ersten KiGGs Studie (wenngleich es eher 15 als zehn Jahre waren). Die aber ist schon selbst mehr als zehn Jahre alt. In den vergangenen zehn Jahren aber gab es dagegen einen leichten Rückgang der schwer übergewichtigen Kinder.