Wer wenig Geld hat, ist eigentlich dadurch schon benachteiligt genug. Doch leider muss er noch einen weiteren – und vielleicht schlimmeren – Nachteil erdulden. Er stirbt deutlich früher.
Dabei stütze ich mich auf einen Bericht des Robert-Koch-Instituts, der wiederum Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) ausgewertet hat.
Wohlstand und Lebenserwartung
Der Einfluss des Einkommens übersteigt sogar noch den des Geschlechts. Eine armutsgefährdete Frau stirbt mit 78,4 Jahren durchschnittlich früher als ein wohlhabender Mann (79,6 Jahre). Ein armutsgefährdeter Mann hat sogar nur eine durchschnittliche Lebenswartung von 71,0 Jahren, verglichen mit 82,8 Jahren bei einer wohlhabenden Frau.
Vergleicht man nur Menschen des gleichen Geschlechts (was sinnvoll ist, wenn man den Effekt des Einkommens betrachten will), dann lebt ein armutsgefährdeter Mann (weniger als 60 Prozent des medianen Nettoäquivalenzeinkommens) 8,6 Jahre kürzer als ein wohlhabender Mann, der mindestens 150 Prozent des Medians zur Verfügung hat. Dieser lag im Betrachtungszeitraum bei 1.495 Euro, also rund 1.500 Euro. Für Frauen liegt die Differenz bei immerhin 4,4 Jahren, also nur rund halb so hoch.
Das Ergebnis zeigt sich übrigens auch in zahlreichen anderen Auswertungen. Es ist also mit allergrößter Wahrscheinlichkeit kein Zufallsbefund, den wir hier überinterpretieren, sondern Arme sterben tatsächlich früher als Reiche.
Zur Erinnerung: Kurze Erläuterung zum Nettoäquivalenzeinkommen
Zur Erinnerung: Das Nettoäquivalenzeinkommen rechnet das Einkommen des Haushalts auf eine Person um. Dabei teilt man aber nicht einfach das Einkommen durch die Zahl der Personen, sondern die erste Person bekommt das Gewicht 1,0, die zweite erwachsene oder jugendliche Person 0,5 und alle Kinder 0,3 (ich verlinke mal eine Erläuterung zum Nettoäquivalenzeinkommens und eine Kritik des Nettoäquivalenzeinkommens, beides Beiträge im Statistiker-Blog). Hat eine Familie mit drei Kindern ein Einkommen von 2.400 Euro, so teilt man das durch 1,0 (z.B. Mutter) + 0,5 (z.B. Vater) + 3 x 0,3 (Kinder), also 2,4. Das Nettoäquivalenzeinkommen beträgt also genau 1.000 Euro.
Wichtig zu wissen ist, dass wir beim Einkommen Haushalte betrachten, keine Einzelpersonen.
Das mediane Nettoäquivalenzeinkommen ist das, zu dem es genauso viele reichere wie ärmere Haushalte gibt. Es liegt üblicherweise etwas niedriger als das arithmetische Mittel der Einkommen, dass wir landläufig als Durchschnittseinkommen bezeichnen.
Warum sterben Arme früher?
Macht Armut krank – oder Krankheit arm? Leider ist die Frage nach den Ursachen nicht so leicht zu beantworten. Es ist sogar denkbar, dass Armut gar nicht krank macht, sondern Krankheit arm. Beispielsweise, weil ein krebskranker Mann seine Arbeit verliert und auf Krankengeld oder gar Sozialhilfe angewiesen ist. Das würde auch erklären, warum der Zusammenhang zwischen Einkommen und Lebenserwartung bei den Männern größer ist. Sie sind oft Hauptverdiener, das Haushaltseinkommen hängt also vor allem von ihrer Gesundheit (und ihrem Bildungsgrad, etc.) ab.
Allerdings gibt es eine ganze Reihe weiterer Studien, in die beispielsweise nur Kinder einbezogen wurden. Sie zeigen, dass es den beschriebenen Effekt zwar gibt, dass aber Armut auch krank macht.
Der Zusammenhang zwischen Krankheit und Armut
Es gibt eine ganze Reihe von Vermutungen, warum Armut krank macht. Gut belegt sind der höhere Alkohol- und Zigarettenkonsum und ein insgesamt weniger gesundheitsbewusster Lebensstil.
Für den Alkoholkonsum scheint das nicht zu gelten, wie unser Leser Gerald Fix anmerkt. Eine Studie der Universität Bayreuth weist sogar auf das Gegenteil hin. Allerdings wurde in der Studie offenbar eine Selbsteinschätzung abgefragt. Das könnte bedeuten, dass wohlhabende Menschen auch einfach ihren Alkoholkonsum kritischer bewerten.
Die in Akademikerkreisen teilweise verbreitete Einstellung, die Armen seien an der niedrigen Lebenserwartung selbst schuld, weil sie zu viel rauchen und trinken, halte ich aber ohnehin für Unsinn. Denn spannend ist die Frage, was diese Unterschiede hervorruft. Dafür gibt es mehrere Kandidaten.
- Psychische Belastung aus dem niedrigen sozioökonomischen Status.
- Gebildete Menschen verdienen im Schnitt mehr und wissen mehr über Gesundheitsthemen.
- Menschen mit Selbstdisziplin verdienen im Schnitt mehr und haben im Schnitt weniger gesundheitsschädigende Laster wie Rauchen.
- Menschen mit niedrigem Einkommen sind weniger zufrieden und haben daher weniger Ansporn, ihr Leben zu verlängern.1
- Reiche Menschen können sich Gesundheit eher leisten, beispielsweise durch den Kauf hochwertiger Produkte.
- Wohlhabenden arbeiten seltener in gefährlichen Berufen.
- Chronisch kranke Menschen sind häufiger arm und leben kürzer.
Niedriger sozialer Status bedeutet Stress
Vermutlich treffen alle die genannten Punkte zu. Ich möchte vor allem den ersten Punkt noch mal hervorheben, nämlich dass ein niedriger sozioökonomischer Status Stress bedeutet. Der Stress durch einen niedrigen sozioökonomischen Status ist gut belegt.2 Dieser Stress wird dann beispielsweise mit Nikotin oder Alkohol „behandelt“. Oder man wählt einen gut bezahlten, aber gesundheitsgefährdenden Beruf um aufzusteigen (auch wenn ich nicht verschweigen möchte, dass in den vergangenen 20 Jahren viel passiert ist, um die Gesundheitsbelastung am Arbeitsplatz zu verringern. Nicht umsonst lautet das Motto zum diesjährigen Tag der ungleichen Lebenserwartung am 10.10. „GUTE ARBEIT MACHT GESUND – SCHLECHTE ARBEIT NIMMT (DAS) LEBEN“.
Macht Armut krank oder Krankheit arm?
Allerdings muss man immer aufpassen, wenn man von einer Korrelation auf eine Kausalität schließen will. Es gibt nämlich noch einen ganz andern Wirkungszusammenhang, nämlich den, dass kranke Menschen sowohl häufiger arm sind als auch früher versterben.
Stellen wir uns einen Mann vor, der einen starken Herzfehler hat und der daher nur eingeschränkt oder sogar gar nicht erwerbsfähig ist. Er hat wenig Geld, vielleicht bezieht er eine Erwerbsminderungsrente oder SGB II – Leistungen. Und er wird vermutlich auch weniger lange leben.
Warum spielt das Einkommen bei Männern eine größere Rolle
Das erklärt teilweise, warum die Lebenserwartung bei Männern mit 8,6 Jahren fast doppelt so weit auseinanderklafft wie bei Frauen mit 4,4 Jahren. Sie sind oft noch immer Hauptverdiener, werden sie krank, ist oft die Familie arm. Das betrifft – wenn der Mann verheiratet ist – natürlich auch die Ehefrau, da diese aber nicht krank ist, stirbt sie nicht früher. Oder umgekehrt, eine erkrankte Frau wird durch ihre Krankheit nicht so oft gleichzeitig auch arm.
Hinzu kommt, dass Männer stärker nach ihrem materiellen Status beurteilt werden. Der Stress aufgrund eines niedrigen sozioökonomischen Status ist bei Männern daher stärker.3 Die Untersuchung verwendet zwar das Haushaltseinkommen, das nicht zwingende mit dem sozioökonomischen Status identisch ist, beide korrelieren aber stark. Männer ergreifen daher auch eher gesundheitsgefährdende Berufe, um ihren materiellen Status zu verbessern.
Außerdem ist das traditionelle Männerbild nicht gerade gesundheitsfördernd. Bei den Wohlhabenden hat man sich von diesem Bild schon stärker gelöst. Und schließlich bleibt noch der bereits erwähnte Punkt, dass das Familieneinkommen meist vor allem vom Einkommen des Mannes abhängt, wodurch viele Effekte hier deutlich stärker „durchschlagen“.
Fazit
Wer arm ist, lebt deutlich kürzer. Allerdings bin ich selbst kein Freund einer Gesundheitsdiktatur, die vor allem mit Verboten einen gesünderen Lebensstil erzwingen will. Das Kernproblem des sozialen Stresses bleibt damit bestehen.
Footnotes
- Es wird teilweise noch immer das Klischee vom armen, aber glücklichen Menschen hervorgekramt. Das stimmt aber nicht, wie beispielsweise Martin Schröder in seinem Buch „Was uns zufrieden macht“ zeigt.
- Beispielsweise von Sapolsky, Robert: Gewalt und Mitgefühl
- Ebenfalls nachzulesen bei Sapolsky, Robert: Gewalt und Mitgefühl
[…] ist nicht immer so. Wenn wir einen Zusammenhang von Armut und Krankheit feststellen, kann das sowohl bedeuten, dass Armut krank macht als auch, dass Krankheit arm […]
[…] Selektionseffekt. Arme und Kranke bleiben meist unverheiratet. Und wie wir bereits gesehen haben, sterben Menschen mit niedrigem Einkommen früher. Nicht nur, weil Armut krank macht, sondern auch weil Krankheit arm macht, aber das steht ja alles […]
Warum diese Fixierung auf eine Kausalität bzgl. arm/reich stirbt früher/später. Durchaus möglich, dass beides deutlich korreliert aber sich nur geringfügig bedingt. Beides könnte durch einen oder mehre weitere Faktoren stark beeinflusst werden. Mein Spitzenkandidat dafür sind Intelligenz/Bildung. Geringe Intelligenz und ungebildet bedeutet im Schnitt schlechtes Einkommen und gleichzeitig auch wenig Interesse/Wissen bzgl. Faktoren, welche die Lebenserwartung beeinflussen (Ernährung, Sport, Gesundheit…).
Bei einer Auswertung bzgl. höchster Ausbildungsabschluss / Lebenserwartung oder höchster Abschluss / Vermögen bzw. Einkommen erwarte ich höhere Lebenserwartung bei höherem Abschluss. Ob das dann noch deutlich abhängig vom Einkommen ist?.
Es gibt ziemlich viele Artikel zu diesem Thema – und es gibt Stellungnahmen von Notärzten, die als typische Alkoholleiche den überlasteten Manager kennengelernt haben.
finanzen100 zitiert eine britische und eine amerikanische Studie; weist allerdings darauf hin, dass die Erhebungen (teils?) auf den Kaufpreis bezogen seien. Das Interview mit den Notärzten finde ich leider nicht mehr.
Allerdings habe ich mir jetzt die Auswertung noch mal angesehen. Das liest sich so, als wäre hier eine Selbsteinschätzung abgefragt worden nach dem Motto „Wie häufig trinken Sie Alkohol – nie, selten, häufig oder sehr häufig?“ Dann kann es auch sein, dass Wohlhabende ihren Alkoholkonsum einfach nur kritischer hinterfragen.
Interessante Auswertung, die kannte ich nicht.
Einspruch, Euer Ehren. Arme trinken nicht mehr als Reiche, der Alkoholkonsum steigt mit dem Einkommen.
Beispiel Informationsdienst Wissenschaft