Heute soll es ausnahmsweise nicht um eine Statistik gehen, sondern um einen Statistiker. Mit solchen geschichtlichen Fragen beschäftige ich mich nicht oft, aber gelegentlich. Unter anderem habe ich einmal über die Statistik in der Sowjetunion geschrieben. Heute geht es konkret um Emil Julius Gumbel. Laien kennen ihn vermutlich nicht, Statistiker vielleicht von den Gumbel Vorlesung auf der Statistischen Woche der Deutschen Statistischen Gesellschaft.
Cancel Culture an der Uni Heidelberg?
Nur wer in Heidelberg studiert hat (ich habe das nicht), hat vielleicht etwas von den Gumbel-Krawallen gehört. Der Begriff ist etwas unfair, denn nicht Julius Emil Gumbel, damals außerordentlicher Professor, hat damals randaliert, sondern die Studierenden. Der AStA (Allgemeiner Studierendenausschuss) und zahlreiche Studierende mochte Gumbel nicht, vor allem wegen seiner politischen Einstellung, und waren erbost, als er trotzdem Professor wurde.
Die Universitätsleitung war zu feige, sich auf die Seiten von Gumbel zu stellen. Dabei war es nicht gerade hilfreich, dass viele seiner Kollegen politisch ebenfalls anders dachten als er. Schließlich wurde ihm deshalb die Lehrerlaubnis entzogen. Für die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) ist Gumbel daher ein Opfer von Cancel Culture, wie Eric Gujer in seinem Beitrag Cancel-Culture an der Universität: Eine neue Form von Extremismus schreibt.
Pazifist und Jude
Allerdings geschah das schon 1930 bis 1932. Der ASta war damals nationalsozialistisch beherrscht, Gumbel dagegen Pazifist und Jude. Schon in den 1920er-Jahren hatte Gumbel sich Feinde gemacht, weil er den damaligen politischen Terror und deren Behandlung durch die Justiz statistisch aufarbeitete.
Politische Morde 1918 bis 1922 | Linke | Rechte | Gesamt |
Morde gesamt | 22 | 354 | 376 |
dar. ungesühnt | 4 | 326 | 330 |
Verurteilungen | 38 | 24 | 62 |
Geständige Täter freigesprochen | – | 23 | 23 |
Geständige Täter befördert | – | 3 | 3 |
Strafe pro Mord | 15 Jahre | 4 Monate | . |
Hinrichtungen | 10 | – | 10 |
Ein Vortrag von Gumbel im Jahr 1925 wurde mehrfach gestört. Der Vortragsort musste deshalb mehrfach kurzfristig gewechselt werden, dennoch wurde die Veranstaltung gestört, es kam zur sogenannten Gumbel-Schlacht, wie die lokalen Tageszeitungen es nannten. Ein Vorgeschmack auf die späteren Gumbel-Krawalle.
Hellpach hilft
Dass Emil Julius Gumbel überhaupt Professor wurde, verdankt er vor allem dem badischen Kultusminister Willy Hellpach. Dieser gehörte der liberalen DDP, einer Vorgängerpartei der FDP, die wie wohl keine andere große Partei der Weimarer Zeit für die Demokratie einstand (auch Hellpach war eine spannende Figur, obwohl heute ebenfalls weitgehend unbekannt). Als 1924 die Suspendierung Gumbels gefordert wurde, lehnte Hellpach ab. Und Hellpach machte ihn 1930 zum Professor.
Die Gumbel-Krawalle
Die Ernennung Emil Julius Gumbels zum außerordentlichen Professor löste die bereits erwähnten Gumbel-Krawalle aus. Zumal der Kultusminister hart blieb und die Ernennung Gumbels nicht zurücknahm, sondern den AStA auflöste. Daraufhin besetzten Studierende die Universität, es kam zu Tumulten und schließlich zum Einsatz der Polizei.
Das Volk Israel soll sich seine eigene Universität aufmachen. […] Dort kann Herr Gumbel seine Statistik, eine Tätigkeit, die gar nicht unter wissenschaftliches Arbeiten fällt, ausüben, dort kann er auf Gimbelfang gehen.
Aus einem Flugblatt des „Aktionsauschuß nationale Studenten“. Interessant ist für uns natürlich auch die Einstellung zur Bedeutung der Statistik für die Wissenschaften.
Universitätsleitung und Kollegen stellten sich nicht etwa hinter Gumbel, sondern begrüßten mehrheitlich die studentischen Aktionen oder zeigten zumindest Verständnis. Eine Erklärung zugunsten Gumbels wurde nur von 80 von damals 5.000 deutschen Hochschullehrer unterschrieben.
Seine Karriere beendet schließlich ein scheinbar harmloser Satz. Viele damals aufstellten Kriegerdenkmäler zeigten keine Soldaten oder religiöse Motive, sondern Frauengestalten, mal mit mal ohne Engelsflügel. Gumbel äußerte in einer internen Veranstaltung der Sozialistischen Studentenschaft damals, das Bild für den Krieg sei für ihn keine „leichtbekleidete Jungfrau mit der Siegespalme in der Hand, sondern die Schrecken und das Leid des Krieges werden viel besser durch eine Kohlrübe verkörpert.“ Der Satz fand seinen Weg in die Öffentlichkeit, nein, nicht über Twitter, sondern die Zeitungen. 1932 verlor Gumbel seine Lehrerlaubnis wegen angeblicher „Unwürdigkeit“. Vermutlich hätte Hellpach in gestützt, doch der war nicht mehr Kultusminister.
Paralleln zu heute?
Eric Gujer in der NZZ hat für seinen Vergleich viel Unterstützung, aber natürlich auch Kritik erhalten (dieser Satz ist fast eine Phrase, denn das trifft fast auf alle Aussagen zu). Immer wieder wird behauptet, Gumbel sei ein Opfer der nationalsozialistischen Säuberung gewesen und nicht von studentischem Aktivismus. Das ist falsch, Gumbel wurde bereits 1932 entlassen, was ihm womöglich sogar das Leben rettete, denn er verließ Deutschland daraufhin. Als Jude wäre er sonst womöglich ermordet worden.
Alternative Fakten bei ChatGPT
Interessant ist, dass das Modul ChatGPT von OpenAI, eine auf „künstlicher Intelligenz“ basierendes Chat-Programm, eine inhaltlich völlig falsche Antwort gibt. Aus der Tatsache, dass Gumbel Deutscher war und seine Ernennung zum Professor von Krawallen begleitet wurde, schließt das Modul, dass er Nationalsozialist gewesen sein muss.
Emil Julius Gumbel war ein Mathematiker und Statistiker, der in den 1920er und frühen 1930er-Jahren in Deutschland arbeitete. Er hatte früh seine Sympathie für die Nationalsozialistische Bewegung zum Ausdruck gebracht und hatte sich für eine „Deutsche Mathematik“ ausgesprochen, die sich von der „jüdisch-bolschewistischen Mathematik“ abgrenzen sollte. Seine Äußerungen und seine Unterstützung für die nationalsozialistische Ideologie waren ein Faktor in seiner Entlassung von der Universität Heidelberg im Jahr 1932 und in den Unruhen, die danach ausbrachen.
Völlig falsche Aussage der KI von ChatGPT zu Gumbel
Leider kann mir das Modul nicht sagen, woher es seine Informationen hat. Es entschuldigt sich zunächst, wiederholt bei einer weiteren Frage den Fehler aber wieder. Ich habe mehrfach nach den Krawallen gefragt und unterschiedlichste Antworten erhalten, mal war Gumbel Rektor (was er nie war), mal wurde er von den Nazis entlassen (er wurde bereits 1932 entlassen) und mal starb er in Frankreich kurz nach dem Krieg (er starb 1966 in New York).
Tatsächlich findet sich die Darstellung von ChatGPT in keiner von mir genutzten Quelle (NZZ, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Archiv, Wikipedia) wider.
So schlimm wie damals ist es heute nicht
Allerdings scheint mir die Stimmung auch heute noch nicht ganz so aufgeladen wie damals. Körperliche Gewalt und politische Morde waren verbreiteter und einen Professor zu entlassen ist mittlerweile schwieriger. Außerdem war die Demokratie damals bei fast allen Parteien unbeliebt, abgesehen von der kleinen, bereits erwähnten DDP. Das bezweifelt auch Eric Gujer nicht, sein Motto scheint: „Wehret den Anfängen“.
Wiederholt sich die Geschichte? Deutschland ist eine junge, aber starke Demokratie, so wie die USA eine alte, aber noch immer vitale Demokratie sind. An der Cancel-Culture gehen diese Demokratien nicht zugrunde, so wenig wie an Massnahmenkritikern und Putin-Verstehern. Aber es lohnt sich, wachsam zu bleiben, was sich an Universitäten zusammenbraut, denn diese sind Frühwarnsysteme für gesellschaftliche Fehlentwicklungen.
Eric Gujer am 10.8.2022 in der Neuen Zürcher Zeitung
Es ist für mich aber auch gar nicht so wichtig, ob mal die damaligen Ereignisse mit den heutigen vergleichen kann, vielmehr lautet die entscheidende Lehre für mich: „Traue niemals einer Bewegung, die behauptet, Statistik sei für die Wissenschaften unerheblich“.
Wieso ist der Bezug der NZZ auf Gumbel irreführend?
Vielen Dank für diesen Beitrag, durch den ich auf die irreführende Inanspruchnahme Gumbels in der NZZ aufmerksam wurde. Gumbel wird zum Glück in den letzten Jahren wiederentdeckt – auch in der Statistik – dank Matthias Scherrer und Lexuri Fernandez von der TU München, aber auch dank der Emil Julius Gumbel-Forschungsstelle an der Uni Potsdam (https://www.mmz-potsdam.de/forschung/emil-julius-gumbel-forschungsstelle). Ein Teil dieser Wiederentdeckung ist auch der Dokumentarfilm von David Ruf, der inzwischen auch in einer englischen Synchronfassung vorliegt (The Prediction of Extreme Events). Das freut mich, da ich mich seit 30 Jahren für die Würdigung der Bedeutung Gumbels einsetze. Christian Jansen, Uni Trier
Danke. Das ist ein sehr wichtiger Beitrag – wegen Gumbel. Wie ich auf Wikipedia gesehen habe, gibt es auch einen Film über ihn (David Ruf: Statistik des Verbrechens – Ein Mathematiker kämpft gegen die Nazis, SWR).
Dennoch noch ein Hinweis zu ChatPGT: Das Programm produziert ziemlich viel Mist. Ich habe z.B. nach der „Commission gouvernementale de Sigmaringen“ gefragt und bekomme auch nach Berichtigung zwar andere, aber immer falsche Antworten.