Die Krankenkasse Barmer hat eine große Erhebung zum Thema Alkoholismus veröffentlicht. Betroffen sind vorwiegend Männer über 50, die im Norden oder Osten der Republik leben. Was sagen uns diese Daten?
Verschiedene Medien, von Lokalblättern bis zur BILD-Zeitung haben die Daten bereits interpretiert. Die meisten sehen einen Generationeneffekt als Ursache für die hohe Betroffenheit von Älteren. Aber was sagen die Daten wirklich aus – und was ist nur (plausible) Vermutung? Vor allem ein zweiter möglicher Effekt tauchte in den meisten Berichten nicht auf.
Wandel in der Einstellung zum Alkohol
In keiner Altersgruppe leiden mehr Menschen unter Alkoholismus als bei den 55 bis unter 60-Jährigen, nämlich mehr als 120.000. Die meisten Tageszeitungen interpretieren das als Generationeneffekt. Ein hoher Alkoholkonsum sei früher deutlich akzeptierter gewesen als heute.
Dieser Erklärung ist in meinen Augen absolut plausibel. Sie erklärt auch, warum Männer häufiger alkoholkrank sind als Frauen. Viel Alkohol zu vertragen galt – und gilt in manchen Kreisen noch immer – als Ausweis von Härte.
Gefangen in intoleranten hierarchischen Befehlsketten und in der Angst, sich sozialen Netzwerken anzuschließen, die als subversiv gedeutet werden könnten, suchte der Durchschnittsmann der Jahrhundertmitte Trost im Alkohol.
Niall Ferguson: Türme und Plätze, Seite 313
Warum aber sinkt mit dem Alter ab 65 die Zahl der Alkoholiker und Alkoholikerinnen wieder? Die Antwort ist so naheliegend wie traurig: zu viel Alkohol erhöht das Risiko eines frühen Todes massiv. Deshalb gibt es nicht besonders viele alte Alkoholiker.
Sind auch andere Erklärungen denkbar?
Meine erste Frage war natürlich: Welche Rolle spielt bei diesem Verlauf, dass nicht in allen Altersgruppen genau gleich viele Menschen vertreten sind. Die Altersgruppen der 55 bis unter 65-Jährigen (da die Daten aus dem Jahr 2020 stammen, also die 1955 bis 1965 geborenen Menschen) gehören zu den besonders geburtenstarken Jahrgängen.
Und auch die rückläufige Zahl von Alkoholkranken im Alter könnte eine Folge davon sein, dass es in diesen Altersgruppen schlicht weniger Menschen gibt.
Nur ein Einwohnereffekt?
Ich habe deshalb die Daten in Beziehung zu den Einwohnerzahlen der jeweiligen Altersgruppe gesetzt. Ich würde jetzt ja echt gerne sagen, ich hätte hier eine sensationelle Widerlegung der oben genannten These gefunden, aber der Verlauf sieht nicht viel anders aus als beim Betrachten der Absolutzahlen.
Immerhin ist die am meisten betroffene Gruppe jetzt nicht mehr die der 55 bis unter 60-Jährigen, sondern die der 60 bis unter 65-Jährigen. Auf Platz zwei folgen jetzt die 65 bis unter 75-Jährigen. In Zahlen: Bei den 60 bis unter 65-Jährigen sind 30,5 Promille (also je 1.000) alkoholkrank, bei den 65 bis unter 70-Jährigen sind es 27,3 Promille und bei den 55 bis unter 60-Jährigen 26,7 Promille.
Bei Corona haben wir uns angewöhnt, die Inzidenz in Fälle pro 100.000 anzugeben, aber beim Alkohol passt die Angabe in Promille (also pro 1.000) einfach schon sprachlich.
Alterseffekt statt Generationeneffekt?
Wobei wir hier – im Gegensatz zu Corona – nicht von Inzidenzen sprechen, sondern von Prävalenzen, also nicht Neuerkrankungen, sondern erkrankte Menschen. Weil es bei Alkoholismus bisher keine Heilung gibt, ist eine steigende Prävalenz ein Stück weit erwartbar. Denn auch ein „trockener“ Alkoholiker ist ein Alkoholiker.
Gibt es über die Jahre keine Änderungen im Alkoholkonsum, steigt die Prävalenz trotzdem, wenn die Zahl der Neuerkrankungen höher ist als die Übersterblichkeit. Letzteres ist bei den älteren Menschen Fall. Es gibt dann weniger Alkoholiker, weil viele von ihnen bereits verstorben sind, aber nur wenige Menschen neu Alkoholiker werden.
Die starke Zunahme des Alkoholismus zwischen 50 uns 65 könnte auch eine Folge der Lebensumstände sein. Die Kinder sind aus dem Haus, der Ruhestand rückt näher oder beginnt bereits vorzeitig, weil der Arbeitsplatz weggefallen ist und wenig Aussicht auf einen neuen Job besteht.
Nur entdeckter Alkoholismus wird gezählt
Hinzu kommt, dass nur Menschen als Alkoholiker gezählt werden, wenn die Sucht bei ihnen auch entdeckt wurde. Zwischen dem Zeitpunkt, ab dem man zu viel trinkt und jenem, ab dem auch ein Alkoholproblem diagnostiziert wurde, vergehen oft Jahre.
Denkbar, dass die Menschen zwischen 50 und 65 gar nicht verstärkt zur Flasche greifen, sondern jetzt entweder Zeit haben, sich mit ihrem Alkoholproblem auseinanderzusetzen oder die Folgen jetzt so stark sind, dass sie nicht mehr geleugnet werden können. Oder beides.
Wie finden wir heraus, was stimmt?
Vermutlich ist der von uns beobachtete Verlauf – Zunahme des Alkoholismus bis 65, dann Abnahme – eine Folge verschiedener Einflüsse. Dass es einen Generationeneffekt gibt, wie in den meisten Berichten behauptet, ist plausibel. Es passt zu den Daten und zu anderen Beobachtungen. So weisen auch weitere Daten auf einen Generationeneffekt hin.. Beispielsweise halbierte sich die Zahl der Alkoholunfälle zwischen 1999 und 2019 nahezu. Auch das muss aber keine Folge rückläufigen Alkoholkonsums sein, möglicherweise wird nur selten unter Alkoholeinfluss Auto gefahren.
Daten zum Alkoholismus selbst erhebt die Barmer leider erst seit 2016, damit sind also keine langen Zeitreihen möglich. Außerdem wurde Alkoholismus früher oft nicht erfasst, weil er nicht behandelt wurde. Ein Effekt, den wir von Depressionen kennen, aber auch von den Corona-Zahlen.
Belegt ist die These des Generationeneffekts durch die Daten also nicht. Denn es gibt auch einen Alterseffekt. Zumal nach Karl Popper Hypothesen nie endgültig belegt werden können.
Wichtig ist aber, dass diese möglichen alternativen Erklärungen nicht bedeuten, dass die These vom Generationeneffekt falsch ist. Wir brauchen noch mehr Daten, beispielsweise zum Alkoholkonsums insgesamt. Tatsächlich sank der Alkoholverbrauch pro Kopf zuletzt.
Es dürfte also einen Generationeneffekt geben, aber vieles spricht dafür, dass er den Verlauf der Kurve nicht alleine bestimmt. Vor allem der Alterseffekt und die oft verspätete Erfassung von Alkoholismus dürften ebenfalls eine Rolle spielen.
Es ist ja leider auch heute noch so, dass man sich dafür rechtfertigen muss nicht zu trinken und nicht umgekehrt.