Fast jeder sechste Deutsche ist armutsgefährdet. Das bedeutet, dass sein Nettoäquivalenzeinkommen (was ist das?) weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens beträgt. Für einen Alleinstehenden sind das rund 11.200 Euro netto im Jahr, für eine Familie mit zwei Kindern rund 23.400 Euro. Für die Deutschen ist das Thema Armut und soziale Ungleichheit eines der wichtigsten überhaupt.
Oft wird dann wehmütig zurück geblickt. Früher, in den goldenen 1950er und 1960er Jahren, vor der Ölkrise. Damals war die Soziale Marktwirtschaft noch sozial. Damals hat man noch zusammen gehalten. Damals waren noch alle mehr oder weniger gleich.
Umso überraschter war ich, als ich in einem alten Buch (Rainer Geißler: Die Sozialstruktur Deutschlands, 2. Auflage von 1996) eine Tabelle zur Entwicklung der Armutsquote fand. Nicht nur, dass Deutschland damals ärmer war und sich viele Familien nicht jeden Tag Wurst oder Fleisch, keinen Fernseher und nur eine klitzekleine Wohnung leisten konnten. Das Land war auch mitnichten besonders gleich.
Armutsquoten von 1963 bis 2003 – Daten der Einkommens-und Verbrauchsstichprobe (EVS), dargestellt nach Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands (40%- und 50%-Grenze, schwarz und blau) und Destatis (60%-Grenze, grau). Bis 1988 ohne Ausländer.
Noch 1963 hatten 14,3 Prozent der Bevölkerung weniger als 50-Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung. Wohlgemerkt, hier liegt die Armutsgrenze nicht wie heute üblich bei 60, sondern bei 50 und sogar 40-Prozent. Leider stellt die Quelle nicht klar, ob mit Durchschnitt das Medianeinkommen (wie in der Armutsforschung üblich) oder das arithmetische Mittel (wie umgangssprachlich üblich) gemeint ist. Der Vergleich mit anderen Daten lässt aber vermuten, dass mit Durchschnitt hier tatsächlich der Median gemeint ist (im Gegensatz zu einer Tabelle auf der folgenden Seite des Buches, wo man offenbar das arithmetische Mittel genommen hat ohne den Unterschied zu erläutern – pfui, Herr Geißler).
Nichts desto trotz, die 14,8 Prozent bleiben ein respektabler Wert. Wie kommt es also, dass viele die 1950er und 1960er Jahre als so gleich in Erinnerung haben? Teilweise können wir nur spekulieren. Armut war damals stärker stigmatisiert, wer arm war hat das möglichst gut versteckt. Noch in den 1980er Jahren haben schätzungsweise ein Drittel bis die Hälfte der Menschen von ihrem Anspruch auf Sozialhilfe keinen Gebrauch gemacht. Auch in den Medien war Armut weniger ein Thema, die Menschen waren außerdem weniger mobil, die Armen blieben in ihren Stadtteilen und die Reichen in ihren. Vermutlich war man froh, den Krieg überstanden zu haben und im Vergleich zur Vorkriegs- und zur Kaiserzeit war Deutschland vergleichsweise gleich. Heute dagegen blickt man auf eine Zeit hoher Gleichheit zurück. Vor allem zwischen 1978 und 1983 sowie 1999 und 2003 ist die Armut stark angestiegen.
Das alles sind allerdings nur Vermutungen, die die Soziologen untersuchen mögen. Aus statistischer Sicht kann man aber einen Unterschied ganz klar feststellen: arm waren damals vor allem Frauen, allen voran Witwen. Während heute über 60-Jährige unterproportional von Armut betroffen sind, war das Alter damals ein großes Armutsrisiko. Heute dagegen sind vor allem Arbeitslose und Alleinerziehende betroffen und damit auch viele Kinder. Für viele Menschen ist Armut somit nicht mehr eine lästige Begleiterscheinung des Alters wie Rückenleiden, sondern eine lebenslage Plage.
[…] T. (2011): Armutsgeschichte, https://www.statistiker-blog.de/archives/armutsgeschichte-2/729.html, abgerufen am […]
[…] Thema, spätestens seit die Armutsquoten in der ersten Hälfte der Nuller-Jahre auf eine neue Rekordhöhe seit den 1970er Jahren gestiegen […]