Über das weltweite Bevölkerungswachstum habe ich ja bereits vor ziemlich genau einem Jahr geschrieben. Die Bevölkerung wächst zwar noch, aber nicht mehr so schnell wie in der Vergangenheit. Trotzdem ist das Wachstum an Menschen ein großes Thema, schließlich hat es viele Auswirkungen: Auf die Umwelt, auf die Nahrungsmittelsicherheit und auf die Stabilität von Ländern. Der syrisch stämmige Politikwissenschaftler Bassam Tibi hat die hohe Zahl junger Menschen ohne Perspektive jüngst ein wesentliches Problem des Nahen Ostens und Nordafrikas genannt.
Nun ist diese These nicht unumstritten, wie meistens in den Sozialwissenschaften. Kritiker argumentieren, dass der Zusammenhang anders herum sei, Instabilität und mangelnde staatliche Absicherung schaffe hohe Geburtenzahlen. Wobei das eine das andere natürlich nicht ausschließt, möglicherweise schaukelt sich beides gegenseitig hoch, ein Teufelskreis.
Wie viele Kinder je Frau weltweit?
Allerdings ist die Zahl der Kinder, die eine Frau im Laufe ihres Lebens auf die Welt bringt, längst nicht mehr so hoch wie viele vermuten. Mal ehrlich, liebe Leser, was würdet ihr schätzen: Sind es 4,0, 3,5, 3,0 oder 2,5 Kinder, die pro Frau durchschnittlich geboren werden? Tatsächlich ist die richtige Antwort 2,5 – genauer gesagt 2,45 nach Daten der Weltbank. Die CIA kommt in ihrem Worldfactbook zu ähnlichen Ergebnissen. Das entspricht der Geburtenzahl in Deutschland im Jahr 1967.
Diese sogenannte Fertilitätsrate ist natürlich nur ein statistisches Konstrukt. Sie gibt an, wie viele Kinder die Frauen im gebärfähigen Alter insgesamt bekommen werden, wenn die Geburtenzahl so hoch bleibt wie sie aktuell ist. Aber der Trend zu weniger Kindern ist seit Jahren stabil. Besonders deutlich war der Rückgang in den 1970er Jahren, von 1970 bis 1980 ging die Kinderzahl je Frau von 4,78 auf 3,72 zurück.
Und natürlich sind Geburtenzahlen in einigen Ländern sehr grobe Schätzungen. Insgesamt ist das Ergebnis aber so eindeutig, dass man es nicht so einfach vom Tisch wischen kann. Dieser Trend erfasst nahezu alle Länder außerhalb Afrikas. Im südlichen Afrika liegt die Geburtenzahl im Durchschnitt noch bei rund fünf Kindern pro Frau und damit etwa so hoch wie in Deutschland zur Zeit der Reichsgründung vor fast 150 Jahren. Dabei ist die Spannweite natürlich groß, das politisch und wirtschaftlich stabile Botsuana liegt mit 2,8 Kindern je Frau nur wenig über dem internationalen Schnitt, der Niger dagegen mit 7,6 Kindern in einem Bereich, der in Deutschland vielleicht überhaupt nie erreicht wurde.
Religion spielt keine große (direkte) Rolle
Außerhalb Afrikas sind solche Zahlen aber kaum noch anzutreffen. Am höchsten ist die Geburtenzahl außerhalb Afrikas laut Weltbank in Ost-Timor. Das Land ist streng katholisch, die Religion scheint aber bei der Kinderzahl nicht die beherrschende Rolle zu spielen. Das ebenfalls katholische Portugal liegt mit den ebenfalls katholischen Ländern Spanien und Polen noch hinter Deutschland, ebenso das überwiegend muslimische Bosnien-Herzegowina. In der Islamischen Republik Iran wird mit 1,70 Kindern pro Frau weniger Nachwuchs geboren als in Schweden (1,89), Norwegen (1,78), Island (1,93) oder den Färöer Inseln (2,60).
Wobei natürlich indirekte Auswirkungen der Religion, etwa auf die Einstellung zu Bildung von Frauen, schwer zu beantworten sind. Insgesamt aber scheint es, als gäbe es eine Kombination, die besonders wirksam für niedrige Geburten sorgt, nämlich die Kombination von hoher Bildung für Frauen mit einem Mangel an Betreuungsmöglichkeiten als Folge traditioneller Rollenbilder.
Erwähnen sollte man natürlich auch, dass die erstaunlich niedrige Fertilitätsrate nicht unwesentlich von China beeinflusst wird. Das riesige Land hat mittlerweile weniger als zwei Geburten je Frau. Auch Indien hat die Kinderzahl deutlich gesenkt und liegt mittlerweile im weltweiten Durchschnitt, der ebenfalls große Nachbar Bangladesch sogar darunter.
Änderungen der Geburtenrate wirken erst langfristig
Wie passt das aber alles zu unserem Ergebnis, dass die Bevölkerung noch immer stark wächst und viele Länder eine hohe Anzahl junger Menschen aufweisen? Ganz einfach, niedrigere Geburtenraten wirken zeitverzögert. Das beste Beispiel ist Südkorea, mit einer Fertilitiätsrate von 1,21 laut Weltbank im Jahr 2014 das geburtenärmste Land weltweit. Trotzdem werden dort, anders als in Deutschland, mehr Menschen geboren als gleichzeitig sterben. Warum? Weil es sehr wenig alte Menschen gibt und sehr viele im mittleren Alter, also in dem Alter, in dem man Kinder bekommt. 1960 hat jede Frau in Korea nämlich noch 6,16 Kinder geboren. Eine Fertilitätsrate von über 6,0 erreichen heute nur noch sechs Länder weltweit (Niger, Somalia, Mali, Tschad, Angola und Demokratische Republik Kongo).
Auch Mitte der 80er, also die heutige Elterngeneration überwiegend geboren wurde, lag die Geburtenrate noch über 3,5, also so hoch wie heute in Namibia oder in Pakistan.
Perioden- und Kohortenfertilität
Vieles spricht also dafür, dass die Geburtenraten weiter fallen werden, auch wenn es in einigen Ländern wie Tunesien, Kasachstan oder auch Deutschland wieder mehr Geburten als noch vor zehn Jahren gibt. In Kasachstan ist die Entwicklung besonders stark, dort stieg die Kinderzahl von 1,7 auf 2,7. Das dürfte aber auch mit einem Problem dieser Prognose zusammenhängen. Angesichts der wirtschaftlichen Unsicherheit haben viele Familien die Kinderplanung vermutlich aufgeschoben. Sie haben also nicht ihre Einstellungen zu Kindern geändert, sondern nur damals gesagt: Kinder ja, aber nicht jetzt. Später wurden diese „aufgeschobenen Geburten“ dann nachgeholt. Betrachtet man die Zahl der Geburten je Generation, die sogenannte Kohortenfertilität, ist die Entwicklung weitaus stabiler. Dann gibt es meistens einen langfristigen Trend nach unten. In Deutschland ist der Trend für alle Geburtsjahrgänge ab 1940 bis 1967 sehr stabil, es ging von Jahr zu Jahr bergab. Die folgenden Generationen aber dürften wieder etwas mehr Kinder bekommen.
Eine erste Bilanz lässt sich meist erst ziehen, wenn die Frauen einer Generation 40 Jahre alt sind, also bis zum Geburtsjahrgang 1976. Danach werden nur noch wenige Kinder geboren, eine endgültige Bilanz zieht man aber meist erst ab 50, teilweise sogar noch später.
Fazit
Die Geburtenrate ist also nicht mehr so dramatisch hoch, außerhalb Afrikas schon gar nicht. Im Vereinigten Königreich hatte es noch fast 100 Jahre gedauert, bis die Kinderzahl von über 6,0 auf unter 3,0 gefallen war (1815 bis 1910), in Brasilien waren es 26 (1963 bis 1989), in Bangladesch 20 (1982 bis 2002) und im Iran nur zehn (1986 bis 1996 – Quelle: Ourworldindata.org).
Das ändert aber nichts daran, dass es in vielen Ländern junge Leute gibt, die keine Chance haben. Nicht immer liegt das allerdings an hohen Geburtenraten, teilweise auch an schlechter Politik. Wo hohe Geburtenraten doch das Problem sind, liegen sie oft in der Vergangenheit begründet, wobei natürlich auch eine Fertilitätsrate von rund drei Kindern je Frau wie in Haiti (3,03), auf den Philippinen (2,98) oder in Algerien (2,86) schon ein deutliches Bevölkerungswachstum bedeutet.
Vor allem Wohlstand und Bildung sorgen für weniger Geburten, nicht ganz so einfach ist aber die Frage, wie man das garantieren kann. An dieser Stelle wiederhole ich mich und appelliere, die weltweite Flucht vom Land in die Städte nicht nur als Bedrohung, sondern auch als Chance zu sehen. Nicht nur Kleinbauern sollten unterstützt werden, sondern auch Stadtverwaltungen, Existenzgründerzentren in Großstädten, Schulen und Krankhäuser. Aber das ist jetzt meine persönliche, statistisch nicht belegte Meinung.
[…] am Anfang der 1990er Jahre war noch rund eine Milliarde Menschen betroffen. Angesichts einer Weltbevölkerung von rund 5,5 Milliarden Menschen damals hungerte also fast jeder fünfte, bei aktuell rund 7,3 […]