Im letzten Beitrag ging es ja um gefühlte Gefühle. Diesmal soll es um die Frage gehen, wie unsere Gefühle uns trügen können. Genauer genommen will ich gefühlte und tatsächliche Migration gegenüber stellen. Es ist jetzt schon wieder einige Wochen her, dass ich an einem Webinar der OECD zum Thema Flüchtlinge teilgenommen habe. Behandelt wurden unterschiedliche Aspekte des Themas, unter anderem auch die gefühlte und die tatsächliche Migration und die Auswirkung auf die Akzeptanz von Flüchtlingen.

Migrantenzahl wird überschätzt

Tatsächlich gibt es in den meisten OECD-Ländern deutlich weniger Migranten als die Bürger durchschnittlich glauben. In Deutschland beispielsweise schätzen die Menschen, dass 23 Prozent der Einwohner des Landes Migranten sind (Genauer gesagt liegt das arithmetische Mittel aller Schätzungen bei 23). Tatsächlich sind aber nur 13 Prozent ins Land eingewandert.

Gefühlte Migration
Von den Befragten geschätzte (rot) und tatsächliche (grau) Zahl von Immigranten je 1.000 Einwohner. Quelle: IPSOS Mori nach OECD

Wobei die Schätzung der Deutschen nicht so schlecht ist, wenn man Bürger mit Migrationshintergrund betrachtet. Den haben nämlich 21 Prozent. Aus der Statistik geht leider nicht hervor, wie bewusst den Befragten dieser Unterschied gemacht worden ist. Allerdings ist der Unterschied zwischen Schätzung und Realität in Deutschland ohnehin verhältnismäßig gering. In Italien schätzten die Befragten den Anteil von Einwanderern auf 30 Prozent, tatsächlich sind es aber nur sieben Prozent. Auch in den USA ist die Differenz gewaltig. Die Befragten schätzten den Einwandereranteil durchschnittlich auf 32 Prozent, tatsächlich sind es aber nur 13 Prozent und damit genauso viele wie in Deutschland.


 

Hintergrund:

Als Menschen mit Migrationshintergrund zählen auch jene, die in Deutschland geboren wurde, die aber mindestens einen aus dem Ausland stammenden Elternteil haben. Ausländer und eingebürgerte Ausländer gelten generell als Bürger mit Migrationshintergrund, unabhängig von der eigenen Migrationserfahrung oder derjenigen der Eltern. Auch das Enkelkind türkischer Einwanderer hat demnach einen Migrationshintergrund, wenn es bei der Geburt die türkische Staatsangehörigkeit hatte. Das gilt auch, wenn es nach dem Optionsmodell sowohl die deutsche als auch die ausländische Staatsbürgerschaft hatte. Einzige Ausnahme sind vor 1950 eingewanderte Menschen und deren Kinder. Andernfalls würden auch alle Vertriebenen und deutschstämmigen Flüchtlinge nach dem 2. Weltkrieg sowie deren Kinder als Menschen mit Migrationshintergrund gezählt. Spätaussiedler und deren Kinder werden in der Statistik dagegen mit Migrationshintergrund geführt.


 

Berliner U-Bahn
Ein Berliner der nach München zieht ist kein Migrant, ein Salzburger dagegen schon, obwohl sich Münchner und Salzburger kulturell und sprachlich näher stehen als Berliner und Münchner. Das gehört zu den Tücken bei der Interpretation von Migrationsstatistiken. Foto: Matthew Nöacl

 

In Deutschland werden natürlich auch Österreicher und Dänen als Migranten gezählt, in New York dagegen Kalifornier oder Texaner nicht, obwohl die Entfernung zwischen New York und den beiden Staaten größer ist als die zwischen Dänemark und Deutschland oder Österreich – und vermutlich auch die kulturelle Differenz zwischen Deutschen, Dänen und Österreichern geringer ist als zwischen einem Texaner und einem Einwohner des Big Apple. Grundsätzlich sollte man erwarten, dass große Länder einen geringeren Migrantenanteil haben als kleine, weil mehr Migranten als Binnenmigranten gezählt werden. Wäre die EU ein Staat, läge der Anteil der Migranten in Deutschland deutlich niedriger, weil Österreicher und Franzosen dann keine Einwanderer mehr wären. Die 13 Prozent in den USA sind also ein vergleichsweise hoher Wert.

Asmara Eritrea
Tolle Architektur, miese Regierung. Aus Eritrea kommen besonders viele Flüchtlinge. Hier die von den Italienern in den 1930er Jahren gebaute Hauptstadt Asmara. Foto: David Stanley

Sehr hoch ist der Anteil der Einwanderer vor allem in Kanada und Australien, es folgt Schweden. Gering ist er dagegen vor allem in den ostasiatischen Ländern Japan und Südkorea, die traditionell der Einwanderung eher ablehnend gegenüber stehen. Auch in Osteuropa gibt es wenig Immigranten, in Polen sind es gerade mal 0,4 Prozent. Die Bevölkerung selbst schätzt den Anteil auf 15 Prozent.

Unterschiedliche gute Schätzungen

Auffällig ist, wie unterschiedlich die Qualität der Schätzungen ist. Die Australier überschätzen den Anteil von Migranten um gerade mal 7 Prozentpunkte, die Italiener dagegen um 23 Prozentpunkte. Im Falle von Italien bedeutet das, dass der Einwanderanteil nicht einmal bei einem Viertel des geschätzten Wertes liegt. Auch in Belgien und den USA liegen die Schätzungen deutlich daneben, um 19 Prozentpunkte.

Das kann verschiedene Ursachen haben, über die ich nur spekulieren kann. Beispielsweise die Frage, in wie weit Migranten im täglichen Leben auffallen. Deutsche, die nach Australien auswandern, sind auch Migranten, fallen aber im Stadtbild meistens nicht auf. Tatsächlich ist die Zahl der Migranten in vielen OECD-Ländern aktuell nicht besonders hoch. In Irland, Spanien, dem Vereinigten Königreich oder Italien lag die Zahl der dauerhaften Neuzuwanderung im Jahr 2015 beispielsweise niedriger als 2007. Allerdings kamen damals keine Flüchtlinge, sondern vor allem Arbeitskräfte aus anderen EU-Staaten.

Es kann aber auch mit den Ängsten der Bürger zusammenhängen, in Belgien beispielsweise mit dem Treiben islamistischer Terroristen. Oder auch mit der Instrumentalisierung durch die Politik, etwa im Fall der USA durch Trump. Und nicht zuletzt auch mit den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, also mit dem Gefühl die Einwanderung auch wirtschaftlich zu meistern.

Überschätzung der Einwanderzahl führt zu Ablehnung

Diese Überschätzung der Einwanderung hat auch ganz konkrete Konsequenzen bei der Akzeptanz von Migranten. Eine Umfrage aus dem Jahr 2014 zeigt etwa, dass weniger Menschen der Meinung sind, es gäbe zu viele Einwanderer, wenn man ihnen vorher die korrekte Zahl gesagt hat. In Italien, wo besonders viele Menschen die Zahl der Einwanderer überschätzen, fanden 44 Prozent der Befragten, es gäbe zu viele Migranten. Von jenen Befragte, denen vom Interviewer mit der Frage auch die korrekte Zahl von Einwanderern genannt wurde, fand nur rund jeder fünfte (22 Prozent), dass es zu viele Migranten gäbe.

Zu viele Migranten Grafik
Anteil der Befragten, die finden es gäbe zu viele Migranten, wenn ihnen der tatsächliche Anteil mitgeteilt wurde (rot) und wenn er ihnen nicht gesagt wurde (grau): Aufgeführt sind die drei Länder mit der höchsten und die drei mit der niedrigsten Ablehnung von Einwanderern sowie die USA. Quelle: Transatlantic Trends 2014, zitiert nach OECD

Überraschend ist, dass in Polen das Wissen um die tatsächliche Migrantenzahl keinen Unterschied macht, obwohl der Anteil der Einwanderer dort deutlich überschätzt wird. Und obwohl auch die Schweden den Einwanderanteil leicht überschätzen, sind dort sogar mehr Menschen der Meinung es gäbe zu viele Migranten, wenn sie den tatsächlichen Anteil kennen. Vergessen sollte man aber nie, dass es bei solchen Befragungen immer auch Unschärfen gibt, beispielsweise weil in der Gruppe derer, denen der Migrantenanteil gesagt wurde, durch Zufall besonders viele Migrationsgegner waren.

Fazit: Zahlen kennen ist wichtig

Die Ablehnung von Migranten sinkt, wenn den Befragten vorher gesagt wurde, wie viele Einwanderer es in ihrem Land tatsächlich gibt. Denn in allen untersuchten Staaten wird deren Zahl überschätzt. Das sollte jenen Kritikern zu denken geben, die Zahlen zur Migration am liebsten gar nicht veröffentlichen würden, weil sie eine Diskussion über die Einwandererzahlen fürchten. Doch das Gegenteil ist der Fall, haben die Menschen keine Daten, gehen sie oft vom aus ihrer Sicht schlimmsten Szenario aus. Umstrittene Sachverhalte nicht zu erforschen oder zu quantifizieren ist deshalb kontraproduktiv.

2 thoughts on “Gefühlte Flüchtlingszahlen”
  1. Bei Italien könnte ich mir vorstellen, dass einerseits die ständige Anwesenheit der Bootsflüchtlinge in den Medien eine Rolle spielt als auch die Wahrnehmung von Zweit-Wohnungs-Besitzern als Migranten. Ich nehme an, die Toskanadeutschen werden nicht als Migranten gezählt, wenn ihr Lebensmittelpunkt (fürchterliches Wort, klingt nach Edeka-Station 🙂 in Deutschland liegt.

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