Einmal noch werde ich mich mit dem unangenehmen Thema Gewalt beschäftigen, dann ist Schluss. Wie erwähnt ist die isolierte Interpretation der Daten der World Terrorism Database schwierig. Nicht nur, weil die Datenqualität schlecht ist, sondern auch weil die Zahl der Terroropfer für sich alleine genommen wenig aussagekräftig ist, da Kriegstote nicht enthalten sind. Eskaliert ein Konflikt kann die Zahl der Terroropfer sinken, weil die Todesfälle dann nicht mehr als Terror-, sondern als Kriegstote gezählt werden. Auch Völkermord wie in Ruanda geht nicht in die Statistik ein.
Das heißt nicht, dass die Daten uninteressant wären. Aber man muss sie in Zusammenhang mit anderen Daten zur Gewalt sehen. Am ehesten lassen sie sich isoliert für Regionen wie Westeuropa und Nordamerika sehen, wo es in den vergangenen 70 Jahren keine Kriege oder Bürgerkriege gab – abgesehen vielleicht von jenem in Nordirland, dessen Opfer aber als Terrortote mitgezählt werden. Der Rückgang der Gewalt in der Region ist der Hauptgrund dafür, dass die Zahl der Terroropfer von 1995 bis 2014 deutlich unter den Werten des 1970er, 1980er und frühen 1990er Jahre lag.
Daten zur Gewalt
Ist die Datenlage beim Thema Terror schon schwer, so wird es bei Gewalt noch schwieriger. Natürlich führt niemand Buch über die Zahl der Toten in Kriegen und Bürgerkriegen, schon gar nicht in der Vergangenheit.
Wie schwierig solche Zahlen sind, zeigt die Diskussion um die Toten des An Lushan Aufstands in China im achten Jahrhundert. China hatte damals schon eine extrem gut organisierte Bürokratie und es gab regelmäßige Volkszählungen, die einen Rückgang der Bevölkerung von rund 53 auf rund 17 Millionen Menschen zeigt, also um zwei Drittel. Das würde den Tod von rund einem Sechstel der Weltbevölkerung bedeuten, auf heutige Verhältnisse übertragen also fast 1,5 Milliarde Menschen. Allerdings verweisen viele Autoren darauf, dass einige Regionen nach dem Bürgerkrieg nicht mehr der Kontrolle durch die Zentralregierung unterlagen. Außerdem waren einige Bevölkerungsgruppen nun nicht mehr steuerpflichtig und wurden deshalb auch nicht gezählt. Und schließlich war die Bürokratie durch den Krieg geschwächt, möglicherweise konnten einzelne Steuerzahler durch ihr Netz schlüpfen.
Bei Schätzungen zu vorstaatlichen Gesellschaften muss man auf die Archäologie zurückgreifen. Beispielsweise auf Verletzungen von gefundenen Skeletten. Das wirft natürlich die Frage auf, wie repräsentativ die Funde sind. Allerdings sind die Ergebnisse so eindeutig, dass wir uns trauen können hier eine Aussage zu treffen.
Besser sieht es mit jüngeren Daten aus. Auch hier handelt es sich natürlich um Schätzungen. Deshalb sollte man kleine Unterschiede nicht überinterpretieren. Allerdings werden wir sehen, dass einige Entwicklungen sehr deutlcih sind.
Die Entwicklung seit 1945
Eine Grafik über die Kriegstoten seit 1900 ist nicht so sehr wegen der Datenlage vor 1945 schwierig, sondern vor allem weil alles danach einem relativ flach vorkommt. Der armenischstämmige türkische-US-amerikanische Ökonom Daron Acemoğlu verwendet eine solche Grafik in seinem Artikel The world our grandchildren will inherit:
the rights revolution and beyond (Seite 10). Bekannt ist der Forscher vor allem für sein Buch „Warum Nationen scheitern“ zur Frage, warum einige Länder so viel reicher sind als andere (gemeinsam mit James A. Robinson).
Dort sieht man vor allem zwei Berge, den Ersten und den Zweiten Weltkrieg. Außerdem noch einen vergleichsweise großen für die Auseinandersetzungen in Korea, wo erst die Franzosen gegen die Unabhängigkeitsbewegung und dann Süd- gegen Nordkorea kämpfte. Letzter taucht auch in der erst 1945 beginnenden Grafik von Max Roser auf, die unten zu sehen ist.
Die Kriege in Indochina sind auch mit ein Grund, warum die 1950er Jahre so hohe Opferzahlen hatten. Der Krieg begann als Kolonialkrieg und wurde dann zu einem zwischenstaatlichen Konflikt. Diese Auseinandersetzungen zwischen Staaten sind seit 1970 deutlich seltener geworden. Weniger stark sind die Bürgerkriege zurückgegangen, egal ob mit oder ohne Einmischung von außen. Sie kosten seit den 1990er Jahren mehr Menschen das Leben als zwischenstaatliche Konflikte, das war in den 1950er Jahren noch anders. Wobei auch hier die Grenzen natürlich fließend sind. Die Kriege zwischen Nord- und Südkorea sowie Nord- und Südvietnam führten eine innerstaatliche Auseinandersetzung weiter.
Die aktuellen Jahre fehlen, ein tendenzieller Anstieg der Kriegstoten zeichnet sich aber schon seit 2004 ab. Trotzdem ist die Gegenwart aber längst nicht so schrecklich wie von vielen Massenmedien dargestellt, selbst in den 1990er Jahren kamen meist mehr Menschen in Kriegen um als aktuell – ganz zu schweigen von den Jahren davor.
Der längere Blick
Natürlich stellt sich jetzt die Frage, ob der Rückgang der Kriegstoten seit 1940 ein langfristiger Trend ist oder am Ende nur eine Folge der kriegerischen Zeit damals. Waren die Jahre besonders blutig ist im Vergleich natürlich jeder andere Zeitraum friedlich.
Wie gesagt ist die Frage schwer zu beantworten, auch hier bietet die Seite ourworldindata.org aber Anhaltspunkte. Demnach war die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts tatsächlich vergleichsweise blutig. Auffällig ist auch, dass die Ausschläge größer werden. Nie zuvor seit 1400 war die Welt angeblich so friedlich wie um 1875. Dann aber explodierte die Gewalt.
Diese Entwicklung lässt sich auch begründen. Weil die Staaten größer wurden gab es seltener Konflikte, wenn dann aber richtig. Die Technik tat ihr übriges, dass es mehr Tote gab, wenn es doch mal zu einem Krieg kam. Natürlich kann man fragen, wie gut die Daten beispielsweise für weit zurückliegende Zeiträume sind. Wurde jede Fehde zwischen dem Markgrafentum Ansbach und der Freien Reichsstadt Nürnberg wirklich erfasst? Oder die zwischen dem Königreich Kongo und seinen Nachbarn?
So oder so dürfen wir aber schlussfolgern, dass es keine langfristige Tendenz zu weniger Kriegen gibt. Und auch wenn die von vielen Hilfsorganisationen zum Eintreiben von Spenden aufgestellte Behauptung einer besonders kriegerischen und unruhigen Gegenwart falsch ist, so zeigt die Erfahrung, dass wir uns auch nicht darauf verlassen können, dass die Welt friedlich bleibt. Immer wieder gab es Zeiten mit weniger Kriegstoten, die dann doch durch neue Kriege abgelöst wurden.
Und ganz früher
Gewalt ist kein neues Phänomen. Der kanadische Wissenschaftler Steven Pinker beschreibt in seinem Buch „Gewalt – Eine neue Geschichte der Menschheit“ wie ein Stamm kanadischer Ureinwohner wartet, bis die Männer des Nachbarstammes auf Jagd ziehen um dann in deren Abwesenheit die Frauen und Kinder zu ermorden. Dschingis Khans Mutter wurde bei ihrer Hochzeit entführt und mit seinem Vater zwangsverheiratet. Der wiederum wurde auf der Rückkehr von der Hochzeits seines Sohnes von einem Nachbarstamm getötet, woraufhin der wiederum den gesamten Stamm, Männer, Frauen und Kinder, ermorden lies. Die neuseeländischen Maori wiederum massakrierten den pazifistischen Stamm der Moriori. Ein Genozid verursacht von Naturvölkern.
Die gerade in Deutschland verbreitete Vorstellung von den edlen Naturvölkern ist schlicht Unsinn. In nicht-staatliche Gesellschaften ist vermutlich eine weitaus höhere Zahl von Menschen durch Gewalt gestorben. Zu 100 Prozent sicher weiß man das natürlich nicht, man muss sich auf die Ergebnisse von Ausgrabungen verlassen. Die aber zeigen genau das.
Auch diese Daten sind natürlich mit großer Vorsicht zu interpretieren. Eine Zeile habe ich sogar entfernt, die mit 251,2 Tote je 100.000 Einwohner und Jahr im Mexican Mestizo Village 1961 bis 1965. Denn ich konnte dazu keine Erläuterung finden. Außerdem ist der Zeitraum sehr kurz, würde man in Deutschland nur 1939 bis 1945 betrachten, sähe die Lage ganz anders aus. Sonderbar auch, dass die mexikanische Stadt Tepoztlán hier getrennt aufgeführt wird.
Allerdings macht die Übersicht bei allen Fragezeichen deutlich, dass die nicht-staatliche Gesellschaften nicht zwangsläufig friedlich waren, ja dass sie in den meisten Fällen sogar deutlich gewaltreicher waren. Das gilt nicht nur für die hier dargestellten, meist aus Afrika, Amerika oder Ozeanien stammenden Gesellschaften. Auch in Deutschland war nach Ansicht einiger Archäologen der Tod durch Gewalt früher sehr häufig.
Fazit
Wenn wir nicht nur Terroropfer betrachten, sondern Tote durch Kriege und Bürgerkriege insgesamt, kommen wir zu einem etwas anderen Bild. Dann ist die Gegenwart international gesehen deutlich friedlicher als noch vor 40 Jahren. Langfristig gesehen zeigen die Daten aber keine Besserung, vielmehr sind in den vergangenen 200 Jahren sehr friedliche Phasen häufiger geworden, dafür aber auch sehr blutig Konflikte. Und in den vergangenen Jahren ist die Zahl der Opfer wieder gestiegen. Insgesamt ist die Datenbasis dünn. Und fehlen für das vollständige Bild noch Opfer von Mord und Totschlag. Zumindest für die vergangenen Jahrzehnte und Deutschland wissen wir aber, dass der seltener geworden ist.
[…] so vielen ernsten Themen wie Demokratie, Terror sowie Krieg und Frieden soll es heute wieder mal um ein Thema aus der Rubrik „Unnützes Wissen“ gehen, […]