Am Kiosk lässt sich leicht sehen, was die Menschen bewegt. BILD macht gefühlt seit längerem jede zweite Zeitung mit einem Rententhema auf. Spiegel und Focus berichten gerne über Terroristen und über die Mittelschicht. Das Verhältnis der Journalisten zu dieser Gruppe ist gespalten. Einerseits halten es viele Blattmacher mit Nietzsche, dem eine „Genialen-Repubik“ vorschwebte, in der „ein Riese […] dem anderen durch die öde Zwischenräume der Zeiten“ zuruft, und „ungestört durch muthwilliges Gezwerge, welches unter ihnen hinwegkriecht […] das hohe Geistergespräch fortführt“.1 Da dürften sich viele Blattmacher in München, Hamburger oder Berlin angesprochen fühlen (natürlich nicht als „Gezwerge“, sondern als Riesen), auch wenn sie Nietzsches Lob der Unterwerfung des Schwächeren sicher nicht teilen. Aber aus der Verachtung der Massen macht man bei vielen Blättern keinen Hehl. Fast schon legendär ist in diesem Zusammenhang der Kommentar eines Autors in der konservativ-libertären US-amerikanischen National Review zur sinkenden Lebenserwartung weißer, männlicher Arbeiter. Die sah man in der Redaktion nicht als Problem, denn „sie verdienen es zu sterben.“2
Die National Review fällt insofern aus dem Rahmen, als sie konservativ-libertär und nicht links-alternativ ist wie Süddeutsche Zeitung, Spiegel oder ZEIT. Die herablassende Haltung gegenüber der Masse, zu der nicht nur die Unterschicht und die untere Mittelschicht gehört, sondern fast alle außerhalb des eigenen Milieus, ist aber auch bei vielen linken Zeitungen und Zeitschriften spürbar. Aber wer soziale Gleichheit möchte, für den muss natürlich eine große Mittelschicht ein Ziel sein und keine Teilung der Gesellschaft in Herren- und Sklavenmenschen, wie Nietzsche sie propagiert. Außerdem stellt die Mittelschicht einen Großteil der Leser.
Kein Wunder also, dass der Focus erst kürzlich mit einer Titelgeschichte über die Mittelschicht unter Druck aufmachte. Dem Nachrichtenmagazin aus München zufolge wird die Mitte nicht nur schrumpfen, sondern in ihrer heutigen Form praktisch ganz verschwinden. „Das Ende der Mittelschicht wie wir sie kennen“, lautet der Titel.
Es ist also Zeit für uns nachzufragen, wie sich der Anteil der Mittelschicht bisher entwickelt hat. Eine kurze Internetrecherche führt mich bezeichnenderweise zuerst zu einem Beitrag über „Einkommensungleichheit, wahrgenommene Ungleichheit und de[n] Einfluss der Medien“ in den Wirtschaftspolitischen Blättern. Demnach vermuten „44 Prozent der Österreicher und 54 Prozent der Deutschen“, dass die Mehrheit ihrer Mitbürger in die untere Einkommensgruppe fällt. Sie gehöre aber der Mittelschicht an, so der Einwand des Beitrages.
Nun ist diese Anmerkung etwas spitzfindig. Denn zur unteren Einkommensschicht zählen jene, die weniger als 70 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung haben (große Haushalte werden dabei auf Basis von Äquivalenzskalen so umgerechnet, dass man eine Familie mit Kindern mit einem Alleinstehenden vergleichen kann). Das Medianeinkommen aber ist das jenes Haushaltes, der genau in der Mitte der Einkommensverteilung liegt. Anders ausgedrückt: Per Definition haben 50 Prozent der Haushalte in höheres und 50 Prozent ein niedrigers Einkommen. Es ist also schlicht unmöglich, dass mehr als 50 Prozent weniger als das Medianeinkommen verdienen und erst recht dass sie weniger als 70 Prozent dieses Einkommens erzielen.
Die Befragten meinen also vermutlich etwas anders, beispielsweise dass mehr als die Hälfte der Deutschen weniger als 60 Prozent Durchschnittseinkommens auf Basis des arithmetischen Mittels bekommt. Das ich hier 60 statt 70 Prozent genommen habe liegt daran, dass das arithmetische Mittel höher liegt als der Median. Deswegen wird bei der Armutsgefährdung oft eine 50 Prozent statt einer 60 Prozent-Schwelle herangezogen, wenn statt des (üblichen) Medians das arithmetische Mittel verwendet wird.
Natürlich dürften die wenigsten Befragten eine eindeutige Zahl im Hinterkopf haben, aber sie beziehen ihre Aussage vermutlich eher auf das arithmetische Mittel. Allerdings gehören auch dann nicht 50 Prozent zur Unterschicht. In dem zitierten Beitrag wurden den Befragten auch verschiedene Einkommenspyramiden vorgelegt. Einige waren wie Pyramiden aufgebaut, mit der Mehrzahl der Bevölkerung ganz unten. Die anderen mit einer relativ großen Gleichverteilung.
Auch hier gibt es natürlich ein ähnliches Phänomen. Die Frage ist, wie ich die einzelnen Stufen der Pyramide definiere. Nehme ich das höchste und das niedrigste Einkommen und unterteile dann meinen Raum dazwischen in fünf (im Original sieben) Stufen, dann bekomme ich tatsächlich einen Verlauf, der wohl dem zweiten Bild ähnelt. Hat der ärmste Haushalt ein Monatseinkommen von Null und der reichste eines von 5,0 Millionen Euro, wäre meine unterste Stufe das Einkommen von 0 bis 1.000.000,- Euro. Da gehöre auch ich dazu.
Diese Einteilung führt uns nicht weiter. Ich könnte auch fünf gleich große Gruppen (sogenannte Quantile, bei fünf Quantilen spricht man von Quintilen) bilden, dann würde jede genau 20 Prozent der Bevölkerung umfassen, ganz egal wie das Einkommen verteilt ist. Auch nicht sinnvoll.
Auch hier bietet es sich an, deine Einteilung ausgehend vom Median oder vom arithmetischen Mittel zu bilden. Es bleibt offen, wie gut die Befragten wussten, was sie hier wirklich bewerten. So oder so ist es erstaunlich, dass mehr Deutsche aus US-Amerikaner ihre Gesellschaft als sehr ungleich wahrnehmen. Das steht im klaren Widerspruch zu den Daten.
Für die Autorinnen und Autoren ist das vor allem dem Einfluss der Medien geschuldet. „Eine stärkere Berichterstattung ab einem Zeitraum von drei aufeinanderfolgenden Tagen vor dem jeweiligen Interview wirkt sich signifikant negativ auf die Sorgen der Befragten aus. Liegt der Anteil der Berichterstattung zur Ungleichheit an der gesamten Berichterstattung einer Woche um einen Prozentpunkt höher, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit um rund 4%, dass ein Befragter bzw. eine Befragte angibt, sich Sorgen um die wirtschaftliche Lage zu machen“, so die Studie.
Daran, dass Deutsche ihr Land als ungleicher wahrnehmen als US-Amerikaner dürfte aber noch ein anderer Umstand schuld sein: Gleichheit ist hierzulande wichtiger als in den USA, trotz Nietzsche. Eine bessere Lektüre als der Philosoph aus Röcken in Sachsen-Anhalt ist ohnehin Alexis de Tocqueville. Der beschrieb schon früh die Tatsache, dass der Abbau sozialer Ungleichheit gleichzeitig die Sensibilität gegenüber der verbliebenen Ungleichheit erhöht..5
Aber wie hat sich die Mittelschicht denn nun wirklich entwickelt? Mehr dazu nächste Woche.
Footnotes
- Nietsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen III, S. 376 ff
- zitierte nach Collier, Paul: Sozialer Kapitalimus, S. 29
- Vereinfachte Darstellung nach Niehus, Thomas, Diermeier, Goecke: Einkommensungleichheit, Gleichheit und der Einfluss der Medien in Wirtschaftspolitische Blätter 1/2018
- Entwicklung der Einkommensungleichheit Daten, Fakten und Wahrnehmungen, Stiftung Familienunternehmen, Seite 31.
- Geißler, Rainer: Die Sozialstruktur Deutschlands, 2. Auflage 1996
[…] Wirtschaftswissenschaften versteht man generell einen Oberbegriff für verschiedene wissenschaftliche Fachgebiete welche sich […]
[…] wir im vergangenen Beitrag gesehen haben gibt es in der Gesellschaft ein weit verbreitetes Gefühl, dass die Mittelschicht […]
Ja, ich vermute auch dass es viel mit Optimismus und Pessimismus zu tun hat. Beziehungsweise mit dem, was Hans Rosling in „Factfulnes“ als „Instinkt der Kluft“ bezeichnet. Die reichen hatlen sich für reicher und die armen für ärmer. Die Statistik von Gigerenzer finde ich sehr interessant. 20 Prozent ist schon eine deutliche Überschätzung.
Demnach vermuten „44 Prozent der Österreicher und 54 Prozent der Deutschen“, dass die Mehrheit ihrer Mitbürger in die untere Einkommensgruppe fällt. Sie gehöre aber der Mittelschicht an, so der Einwand des Beitrages.
Ist das nicht schon ein logisches Problem? Die Einteilung in Ober-, Mittel- und Unterschicht ist ja eine Dreiteilung – dagegen scheint die Frage auf eine Zweiteilung zu zielen. Oder war die Mittelschicht in der Frage genannt?
Ich nehme aber an, dass die Einschätzung viel mit eigenen Wünschen und Ängsten zu tun hat. Gerd Gigerenzer hat mal (Risiko, S.9) eine Umfrage zitiert, nach der 20% der Amerikaner glaubten, zu den reichsten 1% der Amerikaner zu zählen und weitere 20% glaubten, bald zu dieser Gruppe zu gehören. Das kann als Unterschätzung von Ungleichheit interpretiert werden, aber vielleicht auch als Optimismus vs. Pessimismus.