Mit dem Nettoäquivalenzeinkommen ist das so eine Sache. Einerseits ist jedem klar, dass eine Familie mehr Geld braucht als ein Alleinstehender. Andererseits ist das Konzept teilweise nur schwer verständlich (wer es nicht kennt, findet hier eine Erklärung des Konzepts und dort eine Übersicht über wichtige Einkommensgrenzen). Vor allem ist schwer zu bestimmen, wie viel Geld zwei Personen mehr benötigen als eine.

Das legen die Äquivalenzskalen fest. Üblich ist es, für jedes Kind einen um 30 Prozent höheren Bedarf anzunehmen, für jeden Erwachsenen um 50 Prozent. Und hieran entzündet sich unter den Fachleuten die Kritik am Nettoäquivalenzeinkommen. Ist diesser Wert zu hoch? Zu niedrig?

Manche Dinge braucht auch eine Familie nur einmal - das berücksichtigt das Nettoäquivalenzeinkommen. Foto: Jarosław Pocztarski

Die Grundsicherung für Arbeitsuchende („Hartz IV“) nimmt für jeden Erwachsenen 80 Prozent Zusatzbedarf an, für Kinder und Jugendliche je nach Alter 60 bis 80 Prozent. Allerdings sind darin keine Wohnkosten  enthalten. Rechnet man die mit, lag der durchschnittliche Bedarf (das ist der Betrag, den eine Familie vom Sozialamt erhalten würde, wenn sie kein Einkommen und keine Sperrzeiten hat) für eine Paar im September 2010 nach den Daten der Bundesagentur für Arbeit tatsächlich 52,4 Prozent höher. Allerdings ist das nur ein Durchschnittswert. Denn zum Einen gibt es Grundsicherungsempfänger mit Wohneigentum, die entsprechend wenig Leistungen für Unterkunft und Heizung gezahlt bekommen. Zum Zweiten werden Zwangsumzüge meist nur bei sehr großer Abweichung der Wohnkosten vom Soll angeordnet und zum Dritten legte jeder Kreis selbst fest, wie großzügig er bei den Wohnkosten ist (die Wohnkosten werden nicht vom Bund, sondern vom Landkreis oder der kreisfreien Stadt gezahlt).

Wie hoch man die Zusatzbedarfe festlegt ist leider nicht ganz unwichtig. Würde man den Wert von 50 Prozent für einen Erwachsenen erhöhen, würde damit auch die Armut steigen. Würde man ihn absenken, würde sie zunächst zurück gehen, dann aber wieder ansteigen. Denn je höher die Einsparung ist, die man für eine Familie unterstellt, desto höher ist auch das Medianeinkommen. Zeichnet man eine Grafik mit der Armutsquote auf der Y- und dem Zusatzbedarf für jede Person auf der X-Achse, erhält man einen U-förmigen Verlauf.

Zunächst auf der Statistischen Woche und jetzt auch in der Mitgliederzeitschrift der Deutschen Statistischen Gesellschaft hat der Sozialforscher Jürgen Faik deshalb eine Alternative zum Nettoäquivalenzeinkommen aufgezeigt. Die Grundidee lautet, dass sich Menschen vor allem mit anderen Menschen in ähnlichen Lebenslagen vergleichen. Das ist zunächst einmal nicht ganz falsch. Aber der Ansatz geht so weit, Singles ausschließlich mit Singles zu vergleichen und Familien mit fünf Kindern mit anderen Familien mit fünf Kindern. Für jeden Haushaltstyp wird ein eigenes Medianeinkommen berechnet. Ganz ohne Nettoäquivalenzeinkommen. Zur Berechnung der Zahl der armen Familien mit vier Kindern betrachtet man alle Familien dieses Typs, sucht das Medianeinkommen und legt damit die Armutsgrenze für diese Familien fest.

Familien wären nach dem Zerlegungsansatz seltener arm. Foto: Tourismusverband Bad Radkersburg

Das Ergebnis: Nur noch 6,1 Prozent aller Familien mit vier Kindern wären arm. Bei noch größeren Familien dürfte die Armutsquote sogar auf 0,0 Prozent fallen, denn irgendwann liegt die Armutsquote niedriger die Grundsicherungsleistung, so dass man selbst mit Sozialhilfebezug nicht mehr arm wäre. Dagegen würde die Armutsquote bei den Singles auf 37,5 Prozent hochschnellen. Das erscheint zunächst verwunderlich, ergibt sich aber aus dem Ansatz. Die höheren Lebenshaltungskosten einer großen Familie werden ja nicht mehr direkt berücksichtigt, sondern Armut wird nur noch am Durchschnitt des jeweiligen Haushaltstypus gemessen. Und die Einkommen von Singles sind nunmal weit ungleicher als die von Familien, wo staatliche Leistungen (Kindergeld, Kinderzuschlag, etc.) und der „Sozialausgleich“ innerhalb der Ehe Unterschiede verringern.

Die Beobachtung, dass Menschen sich vor allem mit Menschen in ähnlichen Lebenslagen vergleichen, mag richtig sein. Möglicherweise wird die Armut von Familien aktuell überschätzt, weil diese sich gar nicht mit wohlhabenden Doppelverdienern vergleichen. Gut möglich auch, dass sich mehr Einpersonenhaushalt arm fühlen als aktuell gemessen, weil sie sich vor allem mit anderen Kinderlosen vergleichen – ganz abgesehen davon, dass natürlich nichtmaterielle Armut (z.B. Einsamkeit) in dieser Gruppe weiter verbreitet sein dürfte. Zu unterstellen, dass Familien sich gar nicht mit ihren kinderlosen Freunden vergleichen und vor allem das Familien mit fünf Kindern sich nicht mit solchen mit zwei Kindern vergleichen, erscheint mir etwas übertrieben. Vor allem aber ist die spannende Frage ohnehin die Entwicklung der Armut. Und die kann man am besten beobachten, wenn man nicht ständig das Messverfahren ändert.

2 thoughts on “Nettoäquivalenzeinkommen ade?”
  1. Als „Urheber“ des zitierten Zerlegungsansatzes möchte ich eine Relativierung der obigen Ausführungen vornehmen. So bezogen sich meine zitierten Äquivalenzskalen- bzw. Armutsgrenzen-Berechnungen beispielhaft auf ein mikroökonomisches Ausgabensystem – das sog. Functionalized Extended Expenditure System -, und derartige Systeme sind erfahrungsgemäß durch relativ niedrige Äquivalenzskalenwerte gekennzeichnet, d. h. dass in der vorgestellten Systematik des Zerlegungsansatzes die Armutsgrenzen für Mehrpersonenhaushalte in der Tat vergleichsweise niedrig ausgefallen sind mit der Konsequenz relativ niedriger gruppeninterner Armutsquoten. In neueren Berechnungen habe ich anstelle der FELES-Äquivalenzskala andere Äquivalenzskalen für die Mehrpersonen-Armutsgrenzen verwendet (konkret: die sog. alte und die sog. neue Äquivalenzskala). Erwartungsgemäß zeigt sich in diesen Fällen – für das Sozioökonomische Panel (SOEP) 1995-2009 – eine deutlich ausgewogenere Populationsstruktur im Armutsbereich nach Haushaltsgröße. In meinem o. g. Artikel ging es mir allerdings weniger um die konkreten empirischen Befunde, sondern eher um eine Änderung in der Methodik der Armutsmessung, denn der Grundansatz, dass sich Menschen vornehmlich mit ähnlichen Personen(gruppen) vergleichen, ist seit Festingers Pionierarbeit aus dem Jahre 1954 im Rahmen seiner Theorie des sozialen Vergleichs vom Grundsatz her empirisch vergleichsweise gefestigt. Selbstverständlich will ich nicht in Abrede stellen, dass sich z. B. Einpersonenhaushalte nicht nur mit Ein-, sondern etwa auch mit Zweipersonenhaushalten vergleichen dürften. Der wohlstandsbezogene Vergleich mit Sechspersonenhaushalten dürfte Einpersonenhaushalten indes i. d. R. schwer fallen – außer in Sondersituationen, in denen Einpersonenhaushalte ein höheres „reines“ Haushaltsnettoeinkommen aufweisen als Sechspersonenhaushalte. Ergo sollten in der Armutsmessung ggf. auch Intergruppenvergleiche insofern berücksichtigt werden, als „benachbarte“ Personengruppen in die entsprechenden Vergleiche einbezogen werden. Zu dieser Fragestellung liegen allerdings bis dato relativ wenige konkrete sozialpsychologische Befunde vor, und auch in der Individualvariante der subjektiven Armutsmessung wird daher ausschließlich auf Intragruppen-Vergleiche Bezug genommen. Meine SOEP-Berechnungsergebnisse legen es nahe, die Armutswerte gemäß Zerlegungsansatz als obere Grenzwerte und die Armutswerte gemäß dem konventionellen Messansatz als untere Grenzwerte aufzufassen, zwischen denen die „wahren“ Armutswerte liegen dürften. Den letzten obigen Satz, dass man nicht ständig das Messverfahren ändern sollte, kann ich im Grunde genommen nicht unterstreichen, denn auch im obigen Beitrag wird ja die Grundannahme des Zerlegungsansatzes – die intragruppenbezogene Vergleichsbasis – eigentlich als plausibel angesehen. Eine aussagekräftige Zeitreihe mit einem neuen Messverfahren aufzubauen, wäre nicht sonderlich schwierig; allerdings wären in der Tat nicht unerhebliche Widerstände im wissenschaftlichen und politischen Raum zu überwinden.

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